Der Zürcher Sommer 1968
Ein Vorwort zu Buch und digitaler Edition
Joachim Scharloth & Angelika Linke
Wilhelm Tell (links mit Armbrust) im Kreis antiimperialistischer Revolutionäre
Am 1. Juli 1968 befinden sich die Bewohner der Stadt Zürich in einer Art Schockzustand. Sie schwanken zwischen Fassungslosigkeit und Empörung über die Ereignisse, die sich in den Nächten zuvor vor dem Globusprovisorium am Hauptbahnhof, aber auch an vielen anderen Orten in der Innenstadt abgespielt haben. 300 Polizisten hatten sich mit den rund 2000 Demonstranten Strassenschlachten geliefert, wie es sie in der Geschichte der Schweiz in dieser Form noch nie gegeben hatte. Die Demonstration für die Einrichtung eines autonomen Jugendzentrums hatte nach offizieller Darstellung 40 teils schwer verletzte Polizisten, Feuerwehrleute und Demonstranten gefordert, insgesamt waren 169 Personen verhaftet worden. Der Stadtrat kommt zu zwei Dringlichkeitssitzungen zusammen, bei dem sogar die Möglichkeit des Einsatzes von Truppen diskutiert, dann aber einstimmig verworfen wird. Er erlässt aber ein Verbot sämtlicher "Ansammlungen demonstrativen Charakters", das dabei helfen soll, die "Ruhe und Ordnung" wiederherzustellen. Am selben Tag reicht das Aktionskomitee autonomes Jugendhaus Strafklagen gegen die Zürcher Stadtpolizei ein. Die Anklagepunkte: Körperverletzung und Tätlichkeiten. Im Keller des Globusprovisoriums, in dem die Polizei während der Unruhen die verhafteten Demonstranten gesammelt hatte, war es zu schweren Übergriffen gekommen. Der "Dialog der Generationen", den der Stadtpräsident beschwört, scheint am Ende.
Das Zürcher Manifest
In dieser Situation meldet sich eine weitere Stimme zu Wort. Eine Gruppe von Künstlern und Intellektuellen, unter ihnen Max Frisch, entwirft das Zürcher Manifest. In diesem "Aufruf zur Besinnung", der auf Flugblättern und in der Tagespresse publiziert wird, werden die Unruhen als Folge "unzulänglicher Gesellschaftsstrukturen" und der "Unbeweglichkeit unserer Institutionen" gedeutet, die sich nicht den veränderten Bedürfnissen der Menschen anpassten und die Entfaltung schöpferischer Minderheiten verhinderten. Die Gruppe, die sich schnell zu einer Arbeitsgemeinschaft mit grosser Mitgliederzahl entwickelt, stellt sich auf die Seite der Jugendlichen und fordert die Wiederaufnahme des öffentlichen Dialogs und die Wiederherstellung des Demonstrationsrechts. Doch es gingen noch weitere 14 Tage ins Land, ehe sich der Stadtrat zur Aufhebung des Demonstrationsverbotes - und auch nur unter Auflagen - durchringen konnte. Die Zürcher Ereignisse der letzten Junitage im Sommer 68 sollten später als "Globuskrawall" in das kollektive Gedächtnis der Schweiz eingehen. Sie prägen bis heute die Erinnerung an die Zürcher 68er-Bewegung, und der "Globuskrawall" steht auch über die Stadt hinaus als Chiffre für die Protestereignisse in der Schweiz.
 
Dennoch löst das Reizwort "Achtundsechzig" auch in der Schweiz zunächst andere Assoziationen aus. Wenn von "1968" die Rede ist, dann denkt man zunächst nicht an Jugendliche in Zürich, sondern an protestierende Studenten in Berlin und Frankfurt, nicht an ein Zürcher Jugendhaus, sondern an die Kommune I oder an Bilder von überfüllten Hörsälen, in denen Teach-ins mit stundenlangen Diskussionen abgehalten werden. Man denkt an die Happenings der Hippiebewegung in San Francisco und anderswo auf der Welt, an die sexuelle Revolution, die psychedelischen Klänge von The Doors, die Performances von Jimi Hendrix und I can't get no satisfaction. An die Barrikaden im Cartier Latin im Pariser Mai ebenso wie an die Panzer auf dem Prager Wenzelsplatz und die Ermordung Martin Luther Kings. An die von Herbert Marcuses konstatierte "grosse Weigerung" einer ganzen Generation, an Proteste gegen den Vietnamkrieg, an Imperialismus- und Kapitalismuskritik und an den Kampf für mehr Frieden und Gerechtigkeit auf der Welt. All diese Facetten der Jahre um 1968 haben sich zum populären Mythos von "1968" verdichtet, zu einem Mythos, der von einer jungen Generation erzählt, die gegen die Eltern im Namen einer besseren Welt rebellierte, von einer globalen Revolution träumte und schliesslich den langen Marsch durch die Institutionen antrat, um wenigstens einen Teil ihrer Ideale zu verwirklichen.
Die Stadt als Protestraum: Interaktiver Stadtplan aus der digitalen Edition
Der populäre Mythos verstellt den kritischen Blick auf die Ereignisse der Jahre um 1968 und auf ihre konkreten Ausformungen. So wichtig die Einordnung der vielfältigen Protestereignisse in einen globalen Kontext ist, so sehr verwischt sie doch die Besonderheiten der vielen nationalen, regionalen oder lokalen 68er-Bewegungen, die in ihrer je spezifischen Ausprägung und Wirkkraft noch längst nicht beschrieben sind.
Dies zeigt sich auch und vielleicht in besonderem Mass an der Zürcher 68er-Bewegung, die meist nur als lokaler Widerhall der globalen Ereignisse gesehen wird. Die Beiträge im vorliegenden Band und vor allem die Sammlung von über 900 Quellendokumenten auf der beiliegenden DVD-ROM wollen hier neue Einblicke und neue Perspektiven eröffnen. Beides, die Beiträge und die Quellensammlung, sind der Leitfrage verpflichtet, warum und wie sich im Frühjahr und Sommer 1968 in Zürich eine soziale Bewegung formierte, in der so unterschiedliche Akteure wie Schüler und Studierende, Lehrlinge, Rocker und Hippies, aber auch eine grosse Zahl angesehener Stadtbürger gemeinsam den Wunsch nach sozialen und politischen Veränderungen artikulierten.
Das Ende der bürgerlichen Ruhe und Ordnung
Die Ereignisse des Zürcher Sommers 1968 sollen als Kommunikationsgeschichte lesbar werden, als die Geschichte einer durch kommunikative Akte herbeigeführten Verengung von Handlungsspielräumen, die in dem dramatischen Gewaltausbruch der "Globuskrawalle" gipfelte. An dieser Eskalation waren allerdings nicht nur die Aktivisten der jugendlichen Protestbewegung beteiligt, die durch Maximalforderungen und Ultimaten das "Establishment" unter Druck zu setzen suchten und die bürgerliche Ruhe und Ordnung nicht nur symbolisch zu Grabe trugen. Vielmehr hatten auch Medien und Stadtregierung einen grossen Anteil daran, dass sich Ende Juni Polizei und Demonstranten unversöhnlich gegenüberstanden. Mit Warnungen vor Verhältnissen wie in Paris oder Berlin setzte die Presse die Stadtregierung unter Druck, hart gegen alle linksradikalen Bestrebungen durchzugreifen. Auch nach den "Globuskrawallen" prägte die Presse durch teilweise skandalisierende Berichterstattung die öffentliche Wahrnehmung der Ereignisse und das Bild der protestierenden Jugend und ihrer Aktionen. Der spezifische Verlauf der Ereignisse des Zürcher Sommers ist zudem auch der Intervention des linksliberalen Stadtbürgertums verpflichtet, das sich in der Arbeitsgemeinschaft Zürcher Manifest formierte. Deren Forderungen nach freier Meinungsäusserung aller Konfliktparteien, ihre Bemühungen um eine Aufarbeitung der Vorgänge in den Krawallnächten, die Versuche, zwischen Stadtregierung und Jugend zu vermitteln, und auch die Organisation öffentlicher Diskussionsveranstaltung wie die sechstägige Marathondiskussion im Centre Le Corbussier eröffneten neue Handlungsspielräume und waren eine entscheidende Bedingungen dafür, dass eine weitere Radikalisierung der 68er-Bewegung ausblieb. Der Sommer von 1968 blieb in Zürich - anders als in Berlin, Rom oder Tokyo - nur eine kurze Phase breiter Mobilisierung. Die Geschichte der 68er-Bewegung lediglich aus der Perspektive der jugendlichen Aktivisten zu erzählen und den populären Mythos von "1968" auf die Zürcher Ereignisse zu projizieren, greift daher zu kurz. Denn "1968" war in Zürich ein Prozess, der seine spezifische Dynamik nur aus dem Zusammenwirken heterogener Akteursgruppen in einer konkreten lokalen Situation - und bei weitem nicht nur der protestierenden Jugend - gewann.
Skandalisierende Berichterstattung
Alle Akteure haben Spuren hinterlassen, an denen sich ihr Wirken im Zürcher Sommer 1968 noch heute ablesen lässt. Die Flugblätter und Arbeitspapiere des Aktionskomitees für ein autonomes Jugendzentrum oder der Jungen Sektion der Partei der Arbeit etwa, die Dossiers der Arbeitsgemeinschaft Zürcher Manifest, die Zeitungsberichte von Tagesanzeiger, Blick und Neuer Zürcher Zeitung, die Zeitschrift Hotcha!, das Zentralorgan des Zürcher Underground, die Protokolle des Zürcher Stadtrates, die Polizeiakten des Stadtpolizei sowie Plakate und Wandzeitungen öffentlicher Veranstaltungen - von kaum einer anderen 68er-Bewegung sind so faszinierende Zeitdokumente erhalten geblieben. Sie werden mit diesem Buch und der ihm beigegebenen digitalen Quellenedition erstmals einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Zwei Quellengattungen sind dabei besonders hervorzuheben. Zum einen die lange unter Verschluss gehaltenen Polizeiakten des Kriminalkommissariats III (die "Fichen"), die durch eine Sondergenehmigung des Stadtarchivs Zürich erstmals veröffentlicht werden können; zum anderen die rund 300 Wandzeitungen, die im Rahmen der Marathondiskussion 6 Tage Zürcher Manifest im Centre Le Corbusier entstanden sind. Sowohl die Staatsschutzdossiers als auch die Wandzeitungen ermöglichen bislang völlig unbekannte Einblicke in die innerhalb der Bewegung geführten Debatten, aber auch in das Befremden, das die Vorgänge bei Personen auslösten, die wie die Polizisten nicht Teil der Bewegung waren. So lassen die im vorliegenden Buch und in der digitalen Edition versammelten Texte und Dokumente den Zürcher Sommer 1968 wieder als eine Abschnitt der Zürcher Stadtgeschichte lebendig werden, in dem gesellschaftspolitische Fragen die Limmatstadt bewegten und ihre Bewohner polarisierten. Sie wollen 40 Jahre nach den Ereignissen Anlass sein für eine vertiefte Auseinandersetzung mit einer Zeit, die noch heute gesellschaftliche Kontroversen provoziert.