Sprache im Fokus von Identitätspolitik
Joachim Scharloth (Waseda University, Tokyo)
Scharloth, Joachim. “Sprache im Fokus von Identitätspolitik.” Deutsche Sprache, no. 2, July 2024, p. 6.
▤ Inhalt
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1. “Identitätspolitik”

Schon bei der Benennung des Phänomenbereichs, mit dem sich dieser Beitrag zur Rubrik “Sprache in der Gesellschaft” beschäftigen soll, fangen die Probleme an. Denn “Identitätspolitik” ist in öffentlichen Debatten keine neutrale Vokabel sondern ein Stigmawort zur Bezeichnung “linker” Positionen, notorisch verwoben mit Kampfbegriffen wie “politische Korrektheit”, “Cancel Culture”, “Kulturmarxismus” und “Wokeness”. Sie “bedroht unsere freie Gesellschaft”1, ist verantwortlich für “Diskursblocker, die unser Zusammenleben gefährden”2, sie ist eine “radikale Geisteshaltung”, die “unseren Westen von innen” zerstört3, ja ein “vielfältiger Totalitarismus”4, der “einen freien Gedankenaustausch unmöglich” macht5. Ihre Praxis ist eine Form “organisierter Weinerlichkeit”6 und hat die “Brutalität eines Hexenprozesses”7. Und ja: Identitätspolitik ist sogar verantwortlich für den Aufstieg der Extremisten der Neuen Rechten und ihrer parlamentarischen Repräsentanten8 und für Ressentiments gegenüber Migranten9. Dabei ist keine historische Referenz zu weit hergeholt, wenn etwa festgestellt wird “Anhänger der Identitätspolitik fordern, Menschengruppen – wieder – nach Merkmalen zu unterscheiden”10. [192|193]

Mit dem, was den Verfasserinnen des “Combahee River Collective Statement” vorschwebte, ist dies zumindest nur schwer in Beziehung zu setzen. In dem 1977 formulierten Text, der als Urschrift der “Identity Politics” gilt, machten schwarze sozialistische Frauen ihre persönlichen Unterdrückungserfahrungen - sexistische, rassistische und klassistische - zum Ausgangspunkt ihrer politischen Praxis. “This focusing upon our own oppression is embodied in the concept of identity politics.”11 Marginalisiert durch Erziehung in einer patriarchalen Gesellschaft, durch rassistische Ausgrenzung, aber auch ökonomisch als Arbeitskräfte kamen sie zu dem Schluss: “We believe that the most profound and potentially most radical politics come directly out of our own identity, as opposed to working to end somebody else’s oppression.”12 Im damaligen politischen Klima bedeutete das kaum mehr, als die eigenen Anliegen zum Ausgangspunkt politischer Praxis zu machen, statt die politische Arbeit bspw. ausschließlich in die Befreiung der damals noch so genannten Dritten Welt vom Imperialismus zu investieren; es bedeutete auch, das eigene Leid am System nicht als Nebenwiderspruch zu betrachten, der mit dem Ende des Kapitalismus schon verschwinden werde. So argumentierten auch die Aktivistinnen des Zweite-Welle-Feminismus Ende der 1960er Jahre in Deutschland. Und schon in der deutschen 1968er-Bewegung hatte Dutschke die Selbstaufklärung der Aktivistinnen und Aktivisten durch direkte Aktion und kontrollierte Regelverletzung im Alltag propagiert. Die Mitglieder der Kommune I begriffen persönliche Probleme als gesellschaftlich bedingt (“Das Private ist politisch”) und leiteten daraus ihre aktivistische Praxis ab. Und die “Politik in der ersten Person” wurde zum Charakteristikum des sich formierenden Alternativmilieus seit den 1970er Jahren (Kraushaar 2004, S. 114).

“Identitätspolitik” ist also erst einmal nicht neu und unsere Gesellschaft ist in den vergangenen 50 Jahren jedenfalls noch nicht daran zugrundegegangen. Ist es aber neu, dass Sprache in den Fokus von “Identitätspolitik” geraten ist? Nehmen wir empfundene kollektive Marginalisierung oder zumindest Marginalisierungsängste als Basis für sprachpolitische Forderungen und Maßnahmen zum Maßstab, dann ist sprachbezogene Identitätspolitik auch keine Neuheit. Ein paar Beispiele: der Kampf um Vorrechte für Minderheitensprachen wie das Sorbische, die Volksinitiative zum Dialektzwang in Zürcher Kindergärten, die Verweigerung von zweisprachigen Ortsschildern in Teilen Kärntens durch die Kärntner Landesregierung bzw. ihre gewaltsame Entfernung durch Teile der Bevölkerung und womöglich auch Bestrebungen zur Verankerung von Deutsch als Sprache im Grundgesetz.

Erstaunlicherweise wird aber keine der genannten Debatten mit dem Label “Identitätspolitik” versehen. Dieses wird vielmehr dann bemüht, wenn es um das “Gendern”, um die Ersetzung rassistisch geprägter Ausdrücke in Kinderbüchern oder um die Umbenennung von Straßen und Plätzen mit erinnerungspolitisch umstrittenen Namen geht. Dieses Ungleichgewicht mag seine Ursache darin haben, dass die Anliegen von Etablierten (autochthonen Sorb:innen, Zürcher Mundartsprecher:innen, deutschsprachigen Kärntner:innen) weniger kontrovers verhandelt werden als die Anliegen jener, deren Zugehörigkeit und Recht auf Partizipation (noch) nicht gleichermaßen anerkannt ist (Transpersonen, Migrant:innen).

Womöglich als Reaktion auf dieses Ungleichgewicht ist in jüngerer Zeit häufig von einer “Identitätspolitik von Rechts” die Rede.13 Denn auch hier finden sich Erzählungen von bedrohter kollektiver Identität und Marginalisierungsängste (“großer Austausch”, “Geburtenjihad”,[193|194] “Verschwulung”), denen mit einer Besinnung auf eine deutsche oder abendländische Identität und einer neuen Männlichkeit begegnet werden soll. Doch unterscheidet sich der essenzialisierende Identitätsbegriff der (extremen) Rechten fundamental von dem, der “Identitätspolitik” von Links zugeschrieben wird.

Diese unterschiedlichen Bedeutungszuschreibungen und der Charakter als Stigmawort zeigen, dass “Identitätspolitik” keine analytische Kategorie sein kann. Der Gebrauch der Vokabel evoziert vielmehr das, was diese vorgibt zu beschreiben: Kulturkampf und Spaltung der Gesellschaft. Dennoch rücken mit ihr gesellschaftliche Phänomene in den Blick, die wissenschaftliche Aufmerksamkeit verdienen.

 

2. Identität

Da ist zum einen ein geändertes Verständnis von Identität, das im Zug der poststrukturalen Wende in den Kultur- und Sozialwissenschaften sich auch in Teilen der Gesellschaft durchgesetzt hat. Demnach ist Identität keine Form des Ich-Bezugs, die sich im Lauf der eigenen Biographie auf Basis souveräner Entscheidungen einer Einzelperson ausbildet. Sie ist nicht das Ergebnis autonomer Wahl oder gar das Ergebnis der Entfaltung angelegter Eigenschaften im Prozess der Bildung.

Der identitäre Möglichkeitsraum ist vielmehr begrenzt durch gesellschaftlich konstruierte Subjektpositionen, die in den symbolischen Formen einer Gesellschaft (einschließlich der Sprache) sedimentiert sind. Identität ist zudem das Ergebnis von Anerkennung und Zuschreibung durch Dritte, die wiederum durch unterschiedliche Formen des Kapitals mit mehr oder weniger Macht ausgestattet sind. Diese Strukturen können als gewaltsam empfunden werden. Und zwar von jenen, denen eine marginalisierte Subjektposition zugeschrieben wird und denen die Zuschreibungen es nicht ermöglichen, ein kohärentes Selbstbild zu entwickeln oder auch nur ein Leben in Würde zu führen.

Diese Perspektive findet sich vielfach in den Neuen Sozialen Bewegungen und ist etwa verdichtet in dem Titel von Rosa von Praunheims Dokumentarfilm “Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt” (1970/71). Auch die schwarzen Feministinnen des Combahee River Collective bezogen sich nicht einfach auf sich selbst, sondern auf die rassistischen und sexistischen Strukturen innerhalb der amerikanischen Gesellschaft der 1970er Jahre, die ihnen eine marginalisierte Position als Frauen und als Schwarze in der Gesellschaft zuwiesen. Und dies nicht zuletzt deshalb, weil sie aufgrund ihrer Körpermerkmale dominant als schwarz und als Frauen “gelesen” wurden.

Sprache ist im Kontext dieser Identitätsauffassung kein neutrales Werkzeug der Verständigung. Basierend auf Philosophien der normalen Sprache (Wittgenstein, Austin, Quine) strukturiert Sprache als Lebensform die Welt auch normativ. Sprache wird in diesen Identitätstheorien jedoch nicht nur als grammatikalisches und semantisches System relevant gesetzt, in dem Subjektpositionen sedimentiert sind, sondern auch als Praxis der Anrede und Personenreferenz, durch die Personen überhaupt erst als Subjekte sozial verfügbar werden.

Anders als bei den essenzialistischen Identitätskonzepten, die in der extremen Rechten behauptet werden, sind Identitäten in der hier dargestellten Perspektive grundsätzlich wandelbar. Und zwar zum einen, weil sie das Ergebnis von Anerkennung und Zuschreibungen sind, zum anderen aber auch, weil der identitäre Möglichkeitsraum vielen Menschen zwar als gegeben erscheint, aber dennoch sozial konstruiert ist und daher auch erschüttert werden kann. [194|195]

 

3. Politik der Differenz

Die Tiefensemantik der Gesellschaft durch Subversion zu erschüttern, ist wohl das, was im vorliegenden Kontext als neuartige Form der “Politik” wahrgenommen wird. Dabei ist die Politik der Differenz, die auf Unterschiede verweist, ja, sie herausstellt, eine zentrale Praxisform. Denn es ist die Ignorierung oder gar Verleugnung der Existenz dieser Unterschiede durch die Mehrheitsgesellschaft, die mit dafür verantwortlich ist, dass Identitäten Anerkennung versagt wird.

Eine solche Politik steht vor dem Problem, dass sich meist kleine, marginalisierte Gruppen gegen Normalitätsvorstellungen großer gesellschaftlicher Mehrheiten Gehör verschaffen müssen. Aufmerksamkeit für die Belange der Marginalisierten wird häufig nicht durch öffentliche Kritik oder das Formulieren von Ansprüchen erreicht, sondern durch performative Praktiken, die die Ordnung der Alltagswelt infrage stellen. Provokationen, Ereignisinszenierungen im Medienformat oder auch nur eine präfigurative Praxis haben sich hingegen als hochwirksame Strategien der Aufmerksamkeitserzeugung erwiesen. Man denke etwa an die Beachtung, die den Anliegen non-binärer Menschen zuteil wurde, weil eine Lehrperson einer Berliner Universität vorschlug, man möge sie mit “Profex” anreden. Die mediale Resonanz, aber auch die Resonanz in Form von persönlichen Beleidigungen und Herabwürdigungen, der die Lehrperson ausgesetzt war, sind rational kaum anders als mit der Erschütterung des Glaubens an eine rigoros binäre Geschlechterordnung bei einem Teil von Gesellschaft und Öffentlichkeit zu erklären.

Fordern marginalisierte Minderheiten gar, dass die negativen Folgen ihrer Diskriminierung durch gesellschaftliche Maßnahmen ausgeglichen werden sollen, geraten sie nicht nur mit der herrschenden gesellschaftlichen Semantik in Konflikt, sondern stellen auch zentrale Prinzipien liberaler Demokratien infrage. Denn die Politik der Differenz konfligiert mit der in liberalen Demokratien praktizierten Politik der Gleichheit, die aus der universellen Menschenwürde das Diskriminierungsverbot ableitet (Gleichheit vor dem Gesetz, Gleichberechtigung). Die Politik der Differenz fordert jedoch Gleichstellung statt Gleichberechtigung, etwa Frauen- oder Diversitätsquoten und andere Arten von “positiver Diskriminierung”. Sie tut dies mit der Begründung, dass die liberalen Gleichheitsprinzipien für Minderheiten eben nicht zu mehr Gleichheit geführt oder dazu beigetragen hätten, Diskriminierungsstrukturen zu überwinden. Vielmehr begünstigt Blindheit gegenüber Differenz eine Homogenisierung in Richtung der Mehrheitskultur. In welchen Fällen aber sind Ansprüche auf Gleichstellung gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz abzuwägen?

 

4. Anerkennungstheorie und Linguistik

Wenn bislang von “marginalisiert” die Rede war, dann könnte der Eindruck entstanden sein, dass Marginalisierung ein objektiv feststellbarer Zustand sei. Dem ist natürlich nicht so. Ob Behauptungen, marginalisiert, diskriminiert oder gar unterdrückt zu sein, gerechtfertigt sind, muss in gesellschaftlichen Debatten ebenso verhandelt werden wie die Frage, ob die Politik der Differenz sich auf relevante Unterschiede beruft.

Allerdings sind in solchen Debatten schlichte Mehrheitspositionen keine Entscheidungsgrundlage. Vielmehr besteht aus anerkennungstheoretischer Perspektive die Pflicht, jedem Anspruch auf kulturelle Identität zunächst mit der Grundannahme ihres Wertes zu begegnen (Taylor 1995, S. 66–68). Daraus folgt freilich keine Pflicht zu seiner Anerkennung. Die Debatten können durchaus dazu führen, dass Anerkennung verweigert wird. Dort jedoch, wo Minderheiten geltend machen können, dass sie in ihrer Identität bedroht sind, dass vielleicht sogar ihr kulturelles Überleben auf dem Spiel steht, dort können Gleichbehandlungsgrundsatz und Mehrheitsprinzip zugunsten unterstützender Maßnahmen relativiert werden. [195|196]

Sollte jeder Gebrauch des N-Wortes, auch der zitierende oder forensische, geächtet werden, weil eine Minderheit dies fordert? Sollten Schreiber:innen durch geeignete Schreibweisen markieren, dass sie selbstverständlich auch Menschen mitmeinen, deren Geschlechtsidentität in einer binären Geschlechterordnung negiert wird?

Meiner Meinung nach ist es nicht Aufgabe der Linguistik, diese Fragen zu beantworten, wohl aber Prozesse der gesellschaftlichen Aushandlung aus der Metaperspektive zu analysieren und die Ergebnisse dieser Analyse an die Gesellschaft zurückzuspiegeln. Welche Aspekte der gesellschaftlichen Ordnung werden in Debatten um Anerkennung relevant gesetzt? Welche Sprecherpositionen werden mit welchen Lizenzen ausgestattet?

Manche Ansprüche sollte die Linguistik auch selbst als Herausforderung begreifen. Eine Gruppe empfindet jeden Gebrauch eines Ausdrucks, ganz gleich in welchem Kontext, ganz gleich mit welcher Intention, als diskriminierend? Natürlich könnte man die Betroffenen als Linguist:in darüber belehren, dass die Bedeutung eines Ausdrucks nur aus der jeweiligen Situation heraus bestimmt werden kann, dass Intentionen, Sprecherrollen, und Ko-Text berücksichtigt werden müssen, um über den diskriminierenden Charakter zu entscheiden. Aber wäre es nicht geboten (und intellektuell herausfordernder), das im Diskriminierungsvorwurf zum Ausdruck kommende Sprachverständnis zum Anlass zu nehmen, die linguistischen Bedeutungstheorie zu überprüfen und ggf. zu modifizieren?

Als Sozial- und Kulturwissenschaftler:innen sind Linguist:innen darauf geeicht, die Konstruiertheit gesellschaftlicher Zustände und die Wirkmacht diskursiver Tiefensemantiken zu analysieren, die die Grenzen des Denk- und Sagbaren markieren. Wie für alle Wissenschaftler:innen besteht unsere Aufgabe darin, tradiertes, selbstverständliches Wissen und die Praktiken, die dieses Wissen reproduzieren, kritisch zu hinterfragen, ggf. zu dekonstruieren und alternative Wissensräume aufzuzeigen. Selbt wenn wir persönlich manche Forderungen marginalisierter Minderheiten für überzogen oder wenn wir konfrontative oder gar invektive Formen der Intervention für unangemessen halten mögen: Sollten wir nicht ein offenes Ohr und vielleicht sogar eine gewisse Sympathie für Gruppen haben, die Ähnliches wie wir Wissenschaftler:innen aus ihren Alltagserfahrungen und ihrer Alltagspraxis heraus versuchen?

 

Literatur

Kraushaar, Wolfgang (2004): Die Frankfurter Sponti-Szene. Eine Subkultur als politische Versuchsanordnung. In: Archiv für Sozialgeschichte. 44 (2004), S. 105–121.

Taylor, Charles (1995): The Politics of Recognition. In: Amy Gutmann (ed.): Multiculturalism, by Charles Taylor. Princeton University Press. S. 25–74.

 

Fußnoten