Sprachliche Gewalt und soziale Ordnung
Metainvektive Debatten als Medium der Politik
Joachim Scharloth (Waseda University, Tokyo)
Scharloth, Joachim. „Sprachliche Gewalt und soziale Ordnung: Metainvektive Debatten als Medium der Politik“. Sprachliche Gewalt: Formen und Effekte von Pejorisierung, verbaler Aggression und Hassrede, herausgegeben von Fabian Klinker u. a., J.B. Metzler, 2018, S. 7–28.
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Abstract
Sprache ist kein Werkzeug zur Beschreibung der Welt, sie ist ein Medium der Wirklichkeitskonstruktion. Indem wir Dinge benennen, kategorisieren wir sie, d. h. wir fassen sie als Vertreter einer bestimmten Klasse. Wenn wir Sachverhalte beschreiben, detaillieren wir subjektiv relevante Merkmale und kondensieren andere Darstellungsaspekte oder lassen sie gar weg. Wir signalisieren den Kommunikationspartnern, wie wir unsere Äußerungen aufeinander beziehen und welche Wissenskontexte interpretationsrelevant sind. Und wir geben unseren Gesprächspartnern zu verstehen, wie wir unsere Äußerungen verstanden wissen möchten – bspw. epistemisch, scherzhaft oder fiktional. Doch nicht allein durch die Gestaltung eigener Äußerungen konstruieren wir eine Wirklichkeit, auch durch den interaktiven und prozessualen Charakter der Kommunikation entsteht Wirklichkeit als ein soziales Konstrukt. So gestalten wir einerseits unsere Äußerung in Bezug auf unsere Kommunikationspartner (recipient design), andererseits signalisieren wir stets reziprok unser Verständnis des Gesagten und konstruieren so Intersubjektivität. Im gegenseitigen Ratifizieren oder dem Signalisieren von Differenz zum vorher Geäußerten handeln wir Wirklichkeit interaktiv aus.
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Sprachliche Herabsetzung als universelles Phänomen

Sprache ist kein Werkzeug zur Beschreibung der Welt, sie ist ein Medium der Wirklichkeitskonstruktion. Indem wir Dinge benennen, kategorisieren wir sie, d.h. wir fassen sie als Vertreter einer bestimmten Klasse. Wenn wir Sachverhalte beschreiben, detaillieren wir subjektiv relevante Merkmale und kondensieren andere Darstellungsaspekte oder lassen sie gar weg. Wir signalisieren den Kommunikationspartnern, wie wir unsere Äußerungen aufeinander beziehen und welche Wissenskontexte interpretationsrelevant sind. Und wir geben unseren Gesprächspartnern zu verstehen, wie wir unsere Äußerungen verstanden wissen möchten - bspw. epistemisch, scherzhaft oder fiktional. Doch nicht allein durch die Gestaltung eigener Äußerungen konstruieren wir eine Wirklichkeit, auch durch den interaktiven und prozessualen Charakter der Kommunikation entsteht Wirklichkeit als ein soziales Konstrukt. So gestalten wir einerseits unsere Äußerung in Bezug auf unsere Kommunikationspartner (recipient design), andererseits signalisieren wir stets reziprok unser Verständnis des Gesagten und konstruieren so Intersubjektivität. Im gegenseitigen Ratifizieren oder dem Signalisieren von Differenz zum vorher Geäußerten handeln wir Wirklichkeit interaktiv aus. Wir bedienen uns kulturell geprägter Darstellungsmuster (Textsorten, Kommunikative Gattungen) und setzen sie praktischen Relevanzen folgend und zur Erreichung bestimmter pragmatischer Zwecke ein.

Die in der Kommunikation hergestellte soziale Welt ist damit immer eine Konstruktion. „Die Wirklichkeit fordert von uns keine bestimmte Beschreibung – es gibt unendlich viele mögliche Beschreibungen der gleichen Wirklichkeit, die wahr sind. Die Wirklichkeit selbst ist ein ungegliederter, ambiger Prozeß, der permanenten Neuinterpretationen offensteht.“ (Deppermann 2005: 11)

Warum dieser lange Anlauf über die weiten Felder des kommunikativen Konstruktivismus in einem Text über sprachliche Herabsetzung? Weil die Kommunikationspartner nicht außenstehende Schöpfer dieser konstruierten Wirklichkeit sind, nicht extradiegetische Erzähler, nicht Puppenspieler eines Geschehens, in dessen Sphäre sie nicht involviert sind. Sie sind vielmehr zugleich Objekt und Subjekt dieses Prozesses, ganz gleich, ob sie an ihm als Sprecher und/oder Hörer oder bloß als Publikum oder Zeugen partizipieren. Jede kommunikative Konstruktion der Wirklichkeit ist zugleich eine Konstruktion unserer selbst und unseres Verhältnisses zu den anderen in dieser Wirklichkeit. In diesen reziproken Co-Konstruktionsprozessen, in denen auch die soziale Verortung der Interaktanden verhandelt wird, ist es nicht [7|8] nur möglich, sondern durchaus wahrscheinlich, dass andere uns auf eine Weise konstruieren, die nicht unserem Selbstbild entspricht, dass unsere soziale Position so bestimmt wird, dass wir weniger Handlungsmöglichkeiten haben als unsere Interaktionspartner oder dass wir als defizient oder gar wertlos konstruiert und von der Kommunikation ausgeschlossen werden.

 

Die Herabsetzung als Ausnahme und Störung?

Einflussreiche sozialwissenschaftliche Theorien neigen dazu, die wechselseitige Anerkennung und den positiven Austausch als Normalfall, die Herabwürdigung als Sonderfall zu fassen. Namentlich sind dies die Face-Theorie von Erving Goffman und die Anerkennungstheorie von Axel Honneth.

Erving Goffman macht in seiner 1967 erschienenen Arbeit „Interaction Ritual“ das Face zum Dreh- und Angelpunkt sozialer Ordnung. Face ist ein positiver sozialer Wert, den man für sich durch Verhaltensstrategien erwirbt, ein Selbstbild von den eigenen, sozial anerkannten Eigenschaften. Interaktion ist Arbeit am Face und deshalb auch stressbehaftet, weil das Face in Frage steht. Das Face ist das Ergebnis einer Co-Konstruktionsleistung. Die Interagierenden arbeiten ständig am Face ihrer Interaktionspartner, indem sie es durch ihr Handeln bestätigen oder in Frage stellen. Folgt man Goffman, so sind die an der Interaktion Beteiligten im Normalfall bemüht, die Verhaltensstrategien der anderen Interaktandinnen und Interaktanden zu billigen und zu unterstützen und ihnen so ein konsistentes Selbstbild und damit einen positiven sozialen Wert zuzuweisen. „Face“ ist damit ein relationaler Begriff und kein Substanzbegriff. Nur in Aktion und Reaktion der Interaktanden wird das konstituiert, was Goffman „Face“ nennt.

Die Strategien, die Interaktanden verfolgen, sind meistens institutionalisiert und sozial legitimiert. Die Handelnden verfügen über Sets von Verhaltens- und Darstellungsweisen und bringen jene zur Anwendung, von denen sie annehmen, dass ihre Interaktionsteilnehmer sie von ihnen erwarten. Goffman bezeichnet jene Handlungen, die vorgenommen werden, um all das, was man tut, in Übereinstimmung mit einem Image erscheinen zu lassen, als Techniken der Imagepflege.

Er erarbeitet eine „Soziologie der Gelegenheit“, der es darum zu tun ist, Situationen und ihre Menschen zu beschreiben und nicht Menschen und ihre Situationen (vgl. Goffman 1971: 8f). Gesellschaftliche Ordnung ist das Ergebnis der Vermeidung von Situationen, in denen das Face gefährdet werden könnte: „Soziales Leben ist eine klare, ordentliche Angelegenheit, weil man sich freiwillig von Orten, Themen und Zeitpunkten fernhält, wo man nicht erwünscht ist und verachtet werden könnte, wenn man sich einmischt. Man kooperiert mit anderen, um sein Image zu wahren, und wir merken, dass man viel gewinnen kann, wenn man nichts riskiert.“ (Goffman 1971: 51) Das Einhalten der Regeln der Selbstachtung und der Rücksichtnahme als Praktiken der Imagepflege bezeichnet Goffman dagegen als „Arbeitskonsensuns“ (Goffman 1971: 17) in direkter Interaktion. Die Verhaltensstrategien der Interaktionspartner [8|9] zu durchkreuzen oder explizit zu negieren als Techniken der Konfrontation und Herabsetzung, ist dagegen der Sonderfall.

Auch Axel Honneth identifiziert ein allem sozialen Leben „von Anfang an als eine normative Spannung“ innewohnendes, universales Phänomen: Der „wechselseitige Anspruch der Individuen auf Anerkennung ihrer Identität“ (Honneth 1989: 550). Anerkennung ist für Honneth ein gesellschaftliches und psychologisches Bedürfnis von Individuen im Privatleben sowie in Gesellschaft. Für Honneth kann Anerkennung nur reziprok gedacht werden: Um Anerkennung zu erfahren, muss man andere anerkennen. Anerkennung besteht darin, die Eigenschaften eines Individuums positiv zu bestätigen. Sie wird im Paraverbalen mit unterstützenden Handlungen, aber auch in der Sprache erzeugt. (Vgl. Honneth 1992: 13ff.) Mit der Liebe als emotionaler Zuwendung in einer primären Sozialbeziehung, dem Recht als kognitiver Achtung der Gleichberechtigung und der Solidarität als Akzeptanz von Andersartigkeit differenziert Honneth drei Anerkennungsverhältnisse (vgl. Horster 2009: 154f.)

Der Gegenbegriff zur Anerkennung ist die Missachtung. Sie untergräbt Anerkennung und hat das Potenzial die Handlungsfähigkeit und die personale Autonomie eines Individuums zu zerstören. Wird dies von Betroffenen als schmerzhaft wahrgenommen, kann Missachtung als Gewalt beschrieben werden. Aus den Anerkennungsverhältnissen leitet Honneth drei Formen der Missachtung ab: Die Vergewaltigung, die Entrechtung und die Entwürdigung. Die Vergewaltigung schädigt der psychischen Integrität. Physische Gewaltakte können dabei symbolische Dimensionen mit sich bringen. Die Entrechtung (als Ausschließung oder Vorenthaltung von Grundrechten) verbindet die materielle mit der symbolischen Ebene. Die Individuen fürchten sich vor dem Ausschluss aus der Gesellschaft. Die Entwürdigung schließlich entzieht dem Subjekt die Seinsbestimmung (vgl. Iser 2010: S. 396ff.).

So wie bei Goffman die Allgegenwart von Facearbeit erst die Möglichkeit gesichtsbedrohender Akte schafft, so sind bei Honneth die Typen der Missachtung aus Anerkennungsverhältnissen abgeleitet und ihnen damit nachgeordnet. Im Gegensatz dazu soll im vorliegenden Aufsatz Kommunikation als Prozess gefasst werden, bei dem die Positionierungen der am Interaktionsgeschehen Beteiligten zunächst ambig sind und sich nicht per se der Semantik von gesichtsbestätigend oder gesichtsbedrohend, anerkennend oder missachtend zuordnen lassen. Vielmehr ist jede Positionierungshandlung grundsätzlich offen für Interpretationen der Beteiligten einschließlich der anwesenden Zeugen, allerdings auch für Interpretationen, die in zeitlich, räumlich oder medial versetzter Anschlusskommunikationen generiert werden. Ob eine Positionierung demnach als Herabsetzung gilt, hängt davon ab, welche Interpretation hegemonial wird.

Ein Beispiel: Als der damalige EU-Kommissar Günther Oettinger am 26. Oktober 2016 in einer Rede beim 27. EuropAbend des AGA Norddeutscher Unternehmensverband Großhandel, Außenhandel, Dienstleistung e.V. mit Bezug auf chinesische Handelspartner von „Schlitzohren und Schlitzaugen“ sprach und sie beschrieb mit „Anzug, Einreiher dunkelblau, alle Haare von links nach rechts mit schwarzer Schuhcreme gekämmt“, da hatte er noch die Lacher im Publikum auf seiner Seite. Zugleich wurden in sozialen Netzwerken Ausschnitte seiner Rede kommentiert und als rassistisch gedeutet, eine Interpretation die am folgenden Tag von zahlreichen [9|10] Medienplattformen aufgenommen wurde.1 Schließlich äußerte auch eine Sprecherin des chinesischen Außenministeriums, die Bemerkungen würden zeigen, dass manche westliche Politiker „ein irritierendes Gefühl der Überlegenheit haben“.2 Oettinger selbst sah sich genötigt, sich wenige Tage später für seine Äußerungen zu entschuldigen.3 Erst in der Anschlusskommunikation bildet sich eine hegemoniale Deutung des Kommunikationsereignisses heraus, derzufolge die Äußerungen Oettingers eine herabwürdigende Positionierung gegenüber den chinesischen Handelspartnern darstellen; die Deutung des EU-Kommissars selbst, der seine Äußerung als scherzhafte Bemerkung verstanden wissen wollte, wird marginalisiert. Mit seiner Entschuldigung erkennt Oettinger die hegemoniale Deutung als eine mögliche Interpretation an.

 

Sprachliche Muster der Herabsetzung

Wenn die Herabsetzung das Ergebnis der wechselseitigen Positionierung der Interaktanden ist, die durch etwaige Anschlusskommunikationen disambiguiert wird, folgt daraus, dass nicht die Wahl der sprachlichen Mittel allein darüber entscheidet, ob eine Äußerung herabwürdigend ist oder nicht. Gleichwohl hat die Sprachwissenschaft sprachliche Muster und Äußerungstypen identifiziert, die besonders häufig in Situationen Verwendung finden, in denen Positionierungen negativ gedeutet werden und deshalb im Sinne einer pragmatischen Prägung den Deutungsrahmen der Herabwürdigung kontextualisieren.

Die vollständigste Darstellung einer Pragmasemantik herabwürdigenden Sprechens hat Anja Lobenstein-Reichmann in ihrem Buch „Sprachliche Ausgrenzung im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit“ (2013) vorgelegt. Sie reichen von Bezeichnungshandlungen bis hin zu Textsorten und sollen im Folgenden von den kleinsten sprachlichen Einheit ausgehend referiert werden.

So kann die einfache Referenzhandlung bereits als herabwürdigend gedeutet werden, nämlich dann, wenn das Nomen proprium oder das Nomen appelativum, das zur Bezeichnung einer Person oder Gruppe benutzt wird, als implizite Kurzform einer bewertenden Prädikation verstanden werden kann. Beispielsweise wurde der Ausdruck Zigeuner in der Geschichte des Deutschen zwar lange als Name eines Volkes benutzt, hatte aber zugleich eine stark negativ wertende Bedeutungsdimension (vgl. Lobenstein-Reichmann 2013: 33). Was am Extrembeispiel der Bezeichnung Zigeuner illustriert wurde, gilt aber allgemein für jede Referenzhandlung: Eine neutrale Beschreibung der Welt ist nicht möglich, jede Bezugnahme auf Welt enthält wertende Dimensionen (vgl. Quine 1951, Austin 1962: 150).

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Positionierungen können auch mittels Vergleich und Metapher vorgenommen werden. Während Vergleiche den referenzierten Gegenstand mit einem anderen Gegenstandsbereich explizit durch die Partikel wie verknüpfen, geschieht dies bei Metaphern implizit, häufig mit den syntaktischen Formen etwas ist etwas, jemand nennt etw. etw. (doppelter Akkusativ) / bezeichnet etwas als etwas (vgl. Lobenstein-Reichmann 2013: 40). Metaphern und Vergleiche transportieren Wertungen, indem bestimmte Eigenschaften vom Vergleichsgegenstand auf den referenzierten Gegenstand übertragen werden. Ein Beispiel für die Verwendung einer Metapher, die zur Verurteilung wegen Volksverhetzung geführt hat, ist die Bezeichnung von Flüchtlingen als Viehzeug durch PEGIDA-Chef Lutz Bachmann. Das Beispiel ist insofern typisch für Metaphern, die eine herabsetzende Wirkung entfalten können, als diese häufig aus den Bildbereichen Tier, Krankheit, Katastrophe und Kriminalität entlehnt sind (vgl. Lobenstein-Reichmann 2013: 43).

Auch Wortbildungen haben das Potenzial, Positionierungen eine negative Bedeutungsdimension zu geben. So können beispielsweise durch Ableitungen mit den Diminutivsuffixen /lein/ und /ling/ (Emporkömmling, Eindringling, Fremdling) oder durch die Präfixe /un/ (Unkraut, Unmensch) oder /unter/ (Untermensch, Untermenschentum) Negativierungen erzeugt werden (vgl. Lobenstein-Reichmann 2013: 46). Auch einzelne Bestandteile von Komposita können dazu führen, dass die in ihnen realisierten negativen semantischen Merkmale dem Kompositum eine negative Bedeutung geben. In der Zeit des Nationalsozialismus wurden Komposita mit dem Determinatum /Jude/ (Sowjetjude, Reformjude, Zentrumsjude, Musterjude, Edeljude) sowie das Wort Jude selbst „zum Schimpfwort schlechthin“ (Schlosser 2013: 21f) Heute führt das Determinans /Nazi/ dazu, dass die mit ihm gebildeten Komposita eine negative Bewertung des bezeichneten Sachverhalts, Gegenstandes oder der bezeichneten Person transportieren und zwar ganz unabhängig davon, ob das Wort einen Sachverhalt aus dem historischen Nationalsozialismus bezeichnet oder nicht (Nazizeitung, Nazisprache, Nazidichter, Nazi-Treff, Nazi-Bau, Nazi-Freund, Nazi-Justiz).

Eine explizite Form der sprachlichen Herabsetzung, die von Laien oft als prototypische Form der Beleidigung aufgefasst wird, ist die Verwendung von Schimpfwörtern. Schimpfwörter „bringen eine negative Bewertung zum Ausdruck. Zusätzlich zu ihrem deskriptiven Bedeutungsanteil besitzen sie eine differenzierte expressive Bedeutung […].“ (Löbner 2003: 46) Die herabwürdigende Kraft von Schimpfwörtern ergibt sich freilich nicht aus ihrer Wortgestalt, sondern aus ihrer Verwendung im Kontext von Schimpf- und Herabsetzungshandlungen. Die von der Malediktologie zusammengestellten Schimpfwörterbücher (vgl. etwa Kappeller / Voigt 1964, Pfeiffer 1997) sind daher interessante Quellen, funktional orientierte Untersuchungen wie von Sornig (1975) und Scheffler (2000) tragen jedoch mehr zum Verständnis vom Beitrag von Schimpfwörtern zu Positionierungshandlungen bei. Fatma Oztürk Dağabakan versteht unter dem Determinatum Schimpfen die verbale Äußerung von Aggression, mit der Absicht zu beleidigen (vgl. Dağabakan 2012: 82). Steffen K. Hermann und Hannes Kuch sehen Schimpfen und Fluchen als explizite Missachtungsformeln (vgl. Hermann, Kuch 2007: 17), bei denen Schimpfwörter zum Einsatz kommen. Schimpfwörter sind in dieser Perspektive Ausdrücke mit idiomatischer Prägung (Feilke 1996), die sich ihrer Verwendung in typisierten [11|12] kommunikativen Kontexten und Situationen mit konventionalisierten pragmatischen Funktionen verdankt. Spottnamen und anredende Schimpfwörter sind nach Lobenstein-Reichmann (2013: 52) „entweder einwortige illokutionäre oder kontextuell eingebettete Sprechakte, die dazu dienen zu beleidigen, zu schmähen oder auszugrenzen.“

Neben diesen lexikalischen Mitteln können explizite Prädikationshandlungen dazu genutzt werden, Positionierungen mit pejorativem Effekt zu bewirken. Prädikation bezeichnet die Zuschreibung von Eigenschaften. Prädikationen können insbesondere dann herabwürdigende, marginalisierende oder ausgrenzende Effekte haben, wenn sie Bezug auf Normalitätsvorstellungen nehmen und der präzidierten Person oder Gruppe implizit oder explizit eine Abweichung von der Norm zuschreiben. Sie glücken um so eher, je stärker die Aussagen von einem normalistischen Dispositiv (Link 1997) mitgeformt werden, weil sie dann als selbstverständlicher Teil des Wissens einer Gesellschaft gelten und damit unhinterfragbar sind. Grundsätzlich lassen sich prädikative und attributive Prädikationshandlungen unterscheiden. Prädikative Bewertungshandlungen können beispielsweise über Sätze mit einem Prädikativum und der Kopula sein realisiert werden (vgl. Lobenstein-Reichmann 2013: 71). In Sätzen wie „Du bist ein Idiot!“ wird der Angesprochene kategorisiert und zugleich bewertet. Bei der attributiven Bewertungshandlung werden „zwei semantische Informationen zueinander in Beziehung [gesetzt]. Aus dem Nebeneinander wird ein Miteinander, da die semantischen Merkmale der Einzelausdrücke aggregativ miteinander verwoben werden. In der Regel entsteht auf diese Weise semantisch Neues. Bei Adjektivattributen wird das zu bestimmende Substantiv durch den Inhalt des Adjektivs näher spezifiziert.“ (Lobenstein-Reichmann 2013: 75) So setzt die Beleidigung „schwule Sau“ dehumanisierendes Schimpfwort und vermeintliche sexuelle Perversion miteinander in Beziehung. Attributive Prädikationshandlungen können aber auch zur Gradierung benutzt werden (vgl. Lobenstein-Reichmann 2013: 77), das heißt zur Codierung des Überzeugungsgrads oder der emotionalen Involviertheit des Sprechers hinsichtlich des Gehalts des substantivischen Ausdrucks („verdammter Lügner“).

Auf der satzsemantischen Ebene identifiziert Lobenstein-Reichmann den kollektiven Singular, die Aufzählung und die implizite Prädikation als sprachliche Mittel, mit denen pejorisierende Positionierungen vorgenommen werden können.

Mit dem kollektiven Singular, ganz gleich ob in Verwendung mit bestimmtem oder unbestimmtem Artikel, wird hinsichtlich einer Gruppe die Existenz eines Idealtypus insinuiert, der sich bestimmten typischen Eigenschaften der Gruppenangehörigen verdankt. Durch die Bezeichnung mit dem kollektiven Singular werden die bezeichneten Personen dann als Angehörige einer Gruppe mit den für diese Gruppe vermeintlich konstitutiven Eigenschaften klassifiziert. Pejorisierend wirkt der kollektive Singular insbesondere dann, wenn die vermeintlich konstitutiven Eigenschaften negativ bewertet werden (vgl. Lobenstein-Reichmann 2013: 80.) Als Beispiel für eine Abwertung durch den Gebrauch des kollektiven Singulars kann ein auf faz.net erschienener Artikel über die Personenkontrollen im Kölner Hauptbahnhof in der Silvesternacht 2016/2017 dienen, der schon in der Überschrift mit Kollektivsingularen operiert: „Sehr populistische Fragen an den Nafri, Politik und [12|13] Polizei nach Köln“.4 Auch wenn der Autor des Beitrags die Bezeichnung Nafri nicht im Sinn von „mutmaßlicher Straftäter aus einem nordafrikanischen Staat, der schon mit mindestens drei bis fünf Delikten aufgefallen“ ist5, sondern im Sinn von „Nordafrikaner“ benutzen mag, so wird die negative Bedeutung der Klassenbezeichnung durch die in eine Frage verkleidete Zuschreibung einer negativen Eigenschaft deutlich: „Warum geht von Dir und Deinen Freunden ‚Grundaggressivität‘ aus?“ Zudem wird „der Nafri“ vom Autor mit Du angesprochen, der Polizist und der Politiker im weiteren Text hingegen mit Sie. Durch die Bezeichnung mit dem kollektiven Singular werden also alle der rund 2000 vorwiegend jungen Männern, die an jenem Abend von der Polizei kontrolliert wurden, als Nordafrikaner klassifiziert6 und durch die Zuschreibung der Eigenschaft, aggressiv zu sein, negativ bewertet.

Die Aufzählung kann dann dazu beitragen, dass positionierende Bezeichnungen eine negativ wertende Bedeutung bekommen, wenn die immer gleichen Elemente miteinander so oft in Beziehung gesetzt werden, dass sie als festes sprachliches Muster wahrgenommen werden. In der Aufzählung werden die einzelnen Glieder zwar als distinkt dargestellt, zugleich aber unter einem bestimmten Gesichtspunkt als Teil eines Gemeinsamen subsummiert, also „semantisch unter einem bestimmten, ihnen allen gemeinsamen Aspekt gefasst“ (Lobenstein-Reichmann 2013: 83). Auch wenn das Gemeinsame nicht explizit genannt wird, wird es doch von kompetenten Hörern erschlossen. Wird dieses Gemeinsame negativ bewertet, erfolgt eine abwertende Positionierung der bezeichneten Gruppen wie beispielsweise in der Aufzählung "Juden, Kapitalisten und Bolschewisten", die von Nationalsozialisten häufig benutzt wurde, um den vermeintlichen jüdischen Bolschewismus zu referenzieren. „Bisher Eigenständiges erfährt eine Semantisierung als Gruppe, durch die es neu negativ beeigenschaftet wird.“ (Lobenstein-Reichmann 2013: 84)

Ähnlich wie die Aufzählung ohne explizite Nennung einer negativen Eigenschaft zu pejorativen Positionierungen führen kann, so können allgemein durch Präsuppositionen implizite Prädikationen gemacht werden, durch die die referenzierten Personen oder Gruppen abwertend positioniert werden. Präsuppositionen sind das für das Verständnis einer Aussage notwendige, aber stillschweigend vorausgesetzte Wissen. In Aussagen der Identitären Bewegung wie „Wir lassen uns nicht austauschen!“ ist das Ideologem, nach dem die Regierung der Bundesrepublik daran arbeitet, auf Geheiß der USA und anderer Mächte die autochthone Bevölkerung durch Migranten zwecks Ausmerzung des Deutschtums zu ersetzen, als Wissen vorausgesetzt. Neben solchen konstruktionellen Präsuppositionen können auch einzelne Lexeme ganze Wissensbereiche aufrufen, ohne sie zu explizieren (vgl. Lobenstein-Reichmann 2013: 90). [13|14] So setzt das Lexem _Umvolkung_ die Existenz eines homogenen Volkes voraus, dessen Existenz dadurch bedroht ist, dass es durch ein anderes Volk ersetzt wird, und dass dieser Prozess der Ersetzung bereits in Gang ist. Präsuppositionen nutzen demnach Normalitätsvorstellungen als Positionierungsressource und erscheinen deshalb besonders plausibel und unmittelbar evident.

Über die hier referierten Mittel hinaus existieren weitere musterhafte sprachliche Formen, die häufig Verwendung finden, wenn negative Positionierungen vorgenommen werden. Dazu zählen auch Textsorten wie der Fluch (vgl. Lobenstein-Reichmann 2013: 126-137), die Invektive oder der Rant, kommunikative Gattungen wie die Wutrede (Meier 2016), aber auch Formen der Nichtthematisierung wie der Namensentzug und die Tabuisierung (vgl. Lobenstein-Reichmann 2013: 65).

 

Woher kommt die herabsetzende Kraft sprachlicher Positionierungen?

Wenn oben festgestellt wurde, dass nicht die Wahl der sprachlichen Mittel allein darüber entscheidet, ob eine Äußerung herabwürdigend ist oder nicht, dass vielmehr jede der im vorangehenden Abschnitt referierten sprachlichen Formen je nach Äußerungskontext auch als unmarkierte Aussage, als Scherz oder Frotzelei etc. gedeutet werden kann und umgekehrt auch vermeintlich harmlose Äußerungen ohne pragmatisch-invektive Prägung als herabwürdigend, dann bleibt die Frage offen, woraus Äußerungen ihre herabsetzende Kraft beziehen. Diese Frage wurde aus sprachtheoretischer, sprachhandlungstheoretischer und aus subjektivierungstheoretischer Perspektive beantwortet.

In sprachtheoretischer Hinsicht können mit Sybille Krämer (2010: 28-33) Positionen identifiziert werden, die die grundlegende Gewaltförmigkeit der Sprache aus ihrer Funktion, Welt begrifflich zu ordnen, herleiten. Weil jede Benennung eines Individuellen, jede Subsummierung eines Einzelnen unter eine begriffliche Kategorie nur bestimmte Aspekte an diesem hervorhebe, es nur aus einer Perspektive heraus adressiere, konstruiere und sozial verfügbar mache, gehe die Evozierung von Ordnung im Medium der Sprache und die Realisierung von Gewalt Hand in Hand. Eine Sprache, die begriffliche Kategorisierung und Prädikation vermeide, wäre eine reine Namensprache und für Weltaneignung und Kommunikation im Medium der Sprache ungeeignet. Eine so verstandene sprachliche Gewalt ist demnach Bedingung der Möglichkeit des Sprechens und damit vorethisch. Mit der Entgrenzung des Gewaltbegriffs und dem Primat seiner normativen Spielart (im Sinne einer violentia und nicht einer potestas) seit dem letzten Drittel des 20. Jahrhunderts wird die in diesem Sinn unvermeidliche Gewaltsamkeit sprachlicher Äußerungen freilich immer häufiger in einen moralischen Diskurs eingebettet.7

Aus sprechakttheoretischer Perspektive ist Sprechen intentionales Handeln. In der traditionellen Lesart der Austin’schen Theorie haben Sprecher die Möglichkeit, [14|15] durch das Äußern von Worten soziale Tatsachen hervorzubringen (vgl. Kuch 2010: 227-228). Verdiktive Sprechakte (als sprachliche Handlungen des Kategorisierens und Bewertens) haben das Potenzial, Personen oder Gruppen sozial zu positionieren und können damit auch zur Herabwürdigung führen. Diskriminierung und Ausgrenzung sind in dieser Lesart das Ergebnis von Sprechakten der Zuschreibung einer negativ bewerteten sozialen Kategorie (Wagner 2001: 13ff., 2011, 2015). Die Unhöflichkeitsforschung (Culpeper 1996, 2011, Bousfield 2008, Bonacchi 2013) betrachtet Herabsetzungen – quasi als Spiegelbild zur Höflichkeitstheorie von Brown/Levinson (1987), die auf der Face-Theorie Goffmans beruht – als erfolgreichen Vollzug gesichtsbedrohender Akte, also von Akten, die die Verhaltensstrategien der Interaktionspartner durchkreuzen oder explizit negieren. Damit Äußerungen gelingen, müssen die Sprecher einem konventionellen Verfahren folgen, das u.a. soziale Rollen und Vorstellungen von institutioneller Autorität und Geltung einschließt (vgl. Austin 1962: 14f). Solche konventionalisierten Verfahren lassen sich teilweise anhand von Kommunikationsverben identifizieren. Das Deutsche kennt unter anderem beleidigen, beschimpfen, schmähen, verunglimpfen, kränken, verletzen, angreifen, demütigen, ärgern, reizen, schikanieren, provozieren, erniedrigen, foppen, hänseln, necken, lästern, herabsetzen, herabwürdigen, missachten, verhöhnen, verlachen, anpöbeln, schimpfen, einschüchtern. Problematisch an dieser traditionellen Lesart der Austin'schen Sprechakttheorie ist, dass für sie die Intention des Sprechers einzige Quelle für die herabwürdigende Kraft der Äußerung ist. Zwar ist die Existenz konventioneller Verfahren eine notwendige Bedingungen, dennoch liegt es in der Macht des Sprechers, sich dieses Verfahrens zu bedienen und so eine Illokution mit herabwürdigendem perlokutionärem Effekt zu realisieren. Neuere Ansätze betonen daher die Co-Konstruktionsleistung aller am invektiven Geschehen Beteiligten (Meier 2007, Bonacchi 2013) ebenso wie die Bedeutung gemeinsamer Orientierung (Hutchby 2008).

Auch die subjektivierungstheoretische Perspektive fußt zu Teilen auf der Austin’schen Philosophie, entwickelt allerdings eine andere Lesart der Sprechakttheorie. In der Kommunikation wird ein Individuum zum Subjekt, indem es eine Position in einer Struktur zugewiesen bekommt. Das Subjekt ist nicht bloß Ausgangspunkt und Ziel sprachlicher Handlungen, sondern „immer auch eine diskursive Position, die als solche schon vor dem konkretisierten Subjekt ‚da‘ war“ (Hornscheidt 2006: 66). Nicht das souveräne oder autonome Subjekt als „intentionaler Ursprung und Zentrum seines Handelns“, sondern der Vollzug von Sprechakten als interpersonal (nicht notwendigerweise intersubjektiv) koordinierte Tätigkeit (vgl. Krämer/Stahlhut 2001: 38f), durch die Individuen überhaupt erst eine Position zugewiesen bekommen, steht im Zentrum subjektivierungstheoretischer Analysen. Sprache als ein Medium der Kommunikation ist ein fait social, der durch Gebrauch hergestellt und reproduziert wird. Auch wenn bestimmte sprachliche Formen als Sprachsystem quasi naturalisiert und als dem Sprachgebrauch vorgängig gedacht und kodifiziert werden (insbesondere die Grammatik, aber auch andere Bereiche des ‚Sprachsystems‘), handelt es sich doch lediglich um ein in einer Gesellschaft gültiges und durch hegemoniale Diskurse als verbindlich bestimmtes Sprach(regel)wissen. Sprachliche Formen haben für Lann Hornscheidt den Charakter normierender Äußerungsformationen, die ihre Wirkungen dadurch entfalten, dass ihre korrekte Realisierung als [15|16] Bedingung für gelingende Kommunikation gilt. Diese sprachlichen Formen transportieren auch Vorstellungen darüber, welche Arten der Subjektivierung überhaupt möglich sind. Sie sind damit auch eine Bedingung für Diskriminierung (vgl. Hornscheidt 2013: 28f). Wer Deutsch korrekt sprechen will, muss mit morphologischen und lexikalischen Mitteln das Genus markieren. Bei der Benennung von Personen führt dies dazu, dass diese in eine binäre Geschlechterordnung eingepasst werden. Für Judith Butler entzieht sich das Sprechen zu einem gewissen Grad der Kontrolle der Sprecher, was auch Konsequenzen für die Modellierung von Handlungsmacht und Verantwortung hat. Butler vertritt einen Begriff von Agency, der "stärker in Rechnung stellt, daß die Sprache das Subjekt konstituiert und daß sich das, was das Subjekt erschafft, zugleich von etwas anderem herleitet. […] Wer handelt (d. h. gerade nicht das souveräne Subjekt), handelt genau in dem Maße, wie er oder sie als Handelnde und damit innerhalb eines sprachlichen Feldes konstituiert sind, das von Anbeginn an durch Beschränkungen, die zugleich Möglichkeiten eröffnen, eingegrenzt wird." (Butler 2006: 31f)

Die subjektivierungstheoretische Perspektive verwirft demnach die Vorstellung, „dass Personen oder Personengruppen Eigenschaften diskursiv vorgängig ‚haben‘, auf Grund derer sie in einem weiteren Schritt […] sprachlich diskriminiert werden.“ (Hornscheidt 2013: 31) Der postsouveräne Subjektbegriff impliziert entsprechend auch, dass Diskriminierung nicht als ausschließlich individuelle Handlung aufgefasst werden kann, zu der die Intention, ein anderes Subjekt oder eine Gruppe negativ zu bewerten, hinzutreten muss. Vielmehr sind die soziale Kontextualisierung und die situative Einbettung der Sprachhandlungen zentrale Konstituenten von Diskriminierungshandlungen. Der soziale Kontext besteht in den strukturellen Machtpositionen der an einer Kommunikation Beteiligten. Macht wird vor allem als die Möglichkeit, Normalitätsvorstellungen zu generieren, aufgefasst und korreliert mit der Verteilung von Ressourcen, seien es symbolische oder materielle. Diskursive Diskriminierungen sind demnach durch ein Dispositiv gerahmt, das die Möglichkeitsbedingungen für diese Formen diskursiver Diskriminierungen bereitstellt. Entsprechend skeptisch äußert sich Hornscheidt über Äußerungsverbote oder Quotenregelungen: „Strukturelle dispositive transdependente Machtverhältnisse konstituieren Wahrnehmungen, bilden die Basis für die Verhandlung von Benachteiligungen und Bevorteiligungen, sind dynamisch in ihrer Realisierung und so grundlegend für hegemoniale Selbstverständnisse und Selbstvergewisserungen, dass sie nicht ‚schlicht‘ und ‚einfach‘ verändert, ausgelassen, umbenannt, beseitigt werden können.“ (Hornscheidt 2013: 48) Butler betont hingegen stärker die Möglichkeit der Kontext- und damit der Bedeutungsverschiebung subjektivierender Praktiken. Für sie ist eine subversive Verwendung denkbar, „die den Sprechakt von den ihn stützenden Konventionen ablösen kann und damit seine verletzende Wirksamkeit eher in Verwirrung bringt als konsolidiert“ (Butler 2006: 37).

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Die im Rahmen dieses Beitrags vertretene Position verortet sich innerhalb des subjektivierungstheoretischen Paradigmas. Im Unterschied zu Hornscheidt betrachtet sie die diskursiven Ermöglichungsbedingungen positionierenden Sprechens jedoch nicht als die Bedeutung von Äußerungen weitgehend festlegend, sondern als argumentative Ressource im Prozess der Bedeutungsaushandlung in agonalen Situationen sowie in Anschlusskommunikationen. Geht man davon aus, dass die negativ positionierende Bedeutung von sprachlichen Formen und Praktiken das Ergebnis von Zuschreibungen ist, rücken die Prozesse der Zuschreibung selbst und die Bedingungen dafür, dass eine bestimmte Interpretation hegemonial wird, in den Fokus des Interesses. An anderer Stelle (Scharloth 2017) habe ich für die explizite Thematisierung des Invektiven mit deklarativem Charakter den Terminus des Metainvektiven geprägt. Ich lehne mich dabei an die Terminologie an, die im Rahmen des Sonderforschungsbereichs 1285 „Invektivität – Konstellationen und Dynamiken der Herabsetzung“ entwickelt wurde (vgl. Ellerbrock et al. 2017). Der Begriff der Invektivität fungiert als zentraler Reflexionsbegriff, mit dessen Hilfe Formen sprachlicher Herabsetzung wie Unhöflichkeit, Beleidigung, verbale Aggression und Hassrede in einen gemeinsamen Deutungshorizont gerückt werden können. Die gemeinsame Eigenschaft dieser lebensweltlichen Phänomene bezeichnen wir als „das Invektive“: In allen Fällen werden mittels verbaler oder nonverbaler Kommunikationsakte Bewertungen von Personen und Gruppen vorgenommen, die geeignet sind, die soziale Position der am kommunikativen Geschehen Beteiligten zu verändern, die negativ bewerteten Personen oder Gruppen zu diskriminieren und ggf. auszuschließen. Ein einzelnes Kommunikationsereignis, in dem einer Person oder Gruppe eine abwertende Eigenschaft zugeschrieben wird, bezeichnen wir als „eine Invektive“. Auf der pragmatischer Ebene verbindet die unterschiedlichen Erscheinungsformen des Invektiven eine gemeinsame Modalität sozialer Interaktion und Kommunikation. Die invektive Interaktionsmodalität ermöglicht nicht nur eine invektive Rahmung von Kommunikationsakten oder Situationen, sondern erlaubt es den Beteiligten, in der Kommunikation Emotionen relevant zu setzen bzw. Affektpraktiken glaubhaft zu vollziehen. Für die sich aus der Bedeutungszuschreibung ergebenden Dynamik ist es von besonderer Bedeutung, dass der Versuch einer deklarativen Festschreibung selbst invektives Potenzial hat („Das Wort ‚Schlitzauge‘ ist rassistisch.“ / „Wer ‚Schlitzauge‘ sagt, ist ein Rassist.“). Der mit dem deklarativen Charakter verbundene Geltungsanspruch in metainvektiven Äußerungen muss, um hegemonial werden zu können, implizit oder explizit begründet werden. Im Fall stark konventionalisierter Formen pejorisierender Positionierung geschieht dies lediglich implizit. In Situationen, in denen eine eindeutige Bedeutung bestritten wird, müssen diese Geltungsansprüche allerdings explizit begründet werden. Dabei werden häufig Dimensionen konventioneller Verfahren (sprachliche Mittel, kommunikative Rollen, konversationelle Normen), situative Äußerungsaspekte (Äußerungsformen, Äußerungskontext, Sprecherpositionen, soziale Strukturen), kommunikationsethische Postulate (Modalitäten, Intentionen, Lizenzen, soziale Normen und Werte etc.) und Vorstellungen von Sprache und ihrer Wirkmacht in metainvektiven Äußerungen relevant gesetzt. In den Argumenten für oder gegen das invektive Potenzial bestimmter sprachlicher Mittel und Praktiken werden demnach [17|18] auch die Ermöglichungsbedingungen invektiver Sprechakte zum Thema und mit ihnen Vorstellungen von gesellschaftlicher und kultureller Ordnung.

 

Metainvektives Handeln als Medium der Politik

Wenn metainvektive Debatten Medien der Verhandlung sozialer Ordnungsvorstellungen und der Mechanismen ihrer Konstitution sind, dann können sie auch als strategische Ressource für politische Zwecke genutzt werden. Soziale Bewegungen nutzen metainvektive Praktiken geradezu als Laboratorien des Invektiven, wie im Folgenden an Beispielen aus der 68er-Bewegung gezeigt werden soll.

Ein Beispiel für die Inszenierung eines Ereignisses mit dem Ziel, eine öffentliche Debatte über das Invektive zu initiieren, ist die Ohrfeige, die Beate Klarsfeld am 7. November 1968 Bundeskanzler Kiesinger auf dem CDU-Parteitag in Berlin gegeben hat. Im wenige Tage später geführten SPIEGEL-Interview erklärte Beate Klarsfeld nicht nur, dass die Aktion alles andere als spontan und von langer Hand geplant war. Sie thematisiert auch die gesellschaftlichen Konstitutionsbedingungen, die den herabwürdigenden und in ihren Augen nicht gewalttätigen Charakter der invektiven Handlung begründen. Zitat: „Und wenn jemand von einer Frau geschlagen wird, kann man das überhaupt nicht als Gewalttätigkeit betrachten, sondern eher als Mißachtung“.8 Nach der schnellen Verurteilung von Beate Klarsfeld zu einem Jahr Gefängnis auf Bewährung riet Lesebriefschreiberin Irene Blücher aus Bamberg in der ZEIT: „Sie hätte die Ohrfeige nicht dem Kanzler, sondern dem Vorsitzenden der CDU geben sollen. Dann wäre sie besser dabei weggekommen.“9 Die Relevantsetzung des Geschlechts durch die Akteurin, der unterschiedlichen Rollen Kurt Kiesingers als Bundeskanzler und Parteivorsitzender und natürlich der durch die Ohrfeige erfolgte Verweis auf seine Nazivergangenheit belegen, dass die invektive Handlung auch geeignet war, die Rollen und sozialen Positionierungen explizit werden zu lassen.

Ein weiteres Beispiel aus der 68er-Bewegung, das hier ausführlicher analysiert werden soll, sind invektive Praktiken vor Gerichten. Seit dem Frühjahr 1968, nach den Oster-Unruhen in der Folge des Attentats auf Rudi Dutschke, stieg die Zahl der Verfahren gegen die Aktivisten der 68er-Bewegung rasant an. Im Oktober 1968 vermeldete die Frankfurter Rundschau, dass bundesweit nicht weniger als 2000 Verfahren vor Gerichten anhängig seien.10 Gegen diese Kriminalisierung der Bewegung formierte sich freilich schon früh Widerstand. Gerichte wurden von den Aktivisten nicht als legitime Instanzen anerkannt. Vielmehr galten sie als Werkzeuge eines autoritären Staates, dazu eingesetzt, demokratische und emanzipatorische Entwicklungen zu unterdrücken. Sie wurden daher zu Ziel und Ort des Protests gleichermaßen. Zu Vorbildern für wirkungsvolles antiautoritäres Verhalten vor Gericht waren Fritz Teufel und Rainer Langhans geworden. Ihr Buch Klau mich. Strafprozeßordnung der Kommune I [18|19] (Langhans/Teufel 1968), in dem sie ihren Prozess wegen Aufrufs zur Brandstiftung dokumentiert hatten, wurde zum Kultbuch der Bewegung und zur Gebrauchsanweisung für viele, die später als Angeklagte vor Gericht erscheinen mussten.

Der Prozess, den die Berliner Justiz gegen Rainer Langhans und Fritz Teufel wegen des Verteilens der Kommune-Flugblätter 6 bis 9 am 24. Mai 1967 vor der Mensa der Freien Universität anstrengte, ist eine der prominentesten Inszenierungen der Kommune I. In dem Verfahren, das vor der 6. Großen Strafkammer des Landgerichtes Moabit verhandelt wurde, waren die Kommunarden angeklagt, „durch Verbreitung von Schriften zur Begehung strafbarer Handlungen aufgefordert zu haben“.11 Die Flugblätter nahmen Bezug auf eine Brandkatastrophe in Brüssel.12 Am 22. Mai 1967 war dort das Kaufhaus A l’Innovation in Flammen aufgegangen, in denen fast 400 Menschen ihr Leben ließen. Angeregt durch Spekulationen in der Berliner Presse, Vietnamkriegsgegner könnten den Brand gelegt haben, verfassten die Mitglieder der Kommune I Flugblätter, in denen sie diesen (falschen) Behauptungen zustimmten und den Kaufhausbrand als neue Demonstrationsform deuteten. So heißt es im Flugblatt Nr. 6, das sich an der Textsorte des Zeitungsberichts orientiert:

„Neue Demonstrationsform in Brüssel erstmals erprobt

In einem Großhappening stellten Vietnamdemonstranten für einen halben Tag kriegsähnliche Zustände in der Brüsseler Innenstadt her.

Diese seit Jahren größte Brandkatastrophe Belgiens hatte ein Vorspiel. Zur Zeit des Brandes fand in dem Kaufhaus A l’Innovation (Zur Erneuerung) gerade eine Ausstellung amerikanischer Waren statt, die deren Absatz heben sollte. Dies nahm eine Gruppe von Antivietnamdemonstranten zum Anlaß, ihren Protesten gegen die amerikanische Vietnampolitik Nachdruck zu verleihen.“13

Noch provozierender in Form und Inhalt war das Flugblatt Nr. 7, in dem der Kaufhausbrand als neuartige amerikanische Werbemethode dargestellt wurde, und das sich selbst mit den Slogans „NEU ! UNKONVENTIONELL“ und „NEU ! ATEMBERAUBEND“ der Sprache der Werbung bediente:

„Mit einem neuen gag in der vielseitigen Geschichte amerikanischer Werbemethoden wurde jetzt in Brüssel eine amerikanische Woche eröffnet: ein ungewöhnliches Schauspiel bot sich am Montag den Einwohnern der belgischen Metropole:

Ein brennendes Kaufhaus mit brennenden Menschen vermittelte zum erstenmal in einer europäischen Grossstadt jenes knisternde Vietnamgefühl (dabeizusein und mitzubrennen), das wir in Berlin bislang noch missen müssen.“14

[19|20]

Das Flugblatt allerdings, das die Aufmerksamkeit der Berliner Justiz am meisten auf sich lenkte, war das Flugblatt Nr. 8. Es war überschrieben mit der Frage „Wann brennen die Berliner Kaufhäuser?“ und legte nahe, dass es das Ziel der vermeintlichen Brandstiftung im Brüsseler Kaufhaus gewesen sei, den Bürgern ein echtes Gefühl dafür zu geben, wie sich der Vietnamkrieg am eigenen Leib anfühle:

„Ob leere Fassaden beworfen, Repräsentanten lächerlich gemacht wurden, die Bevölkerung konnte immer nur Stellung nehmen durch die spannenden Presseberichte. Unsere Belgischen Freunde haben jetzt endlich den Dreh heraus, die Bevölkerung am lustigen Treiben in Vietnam wirklich zu beteiligen: sie zünden ein Kaufhaus an, dreihundert saturierte Bürger beenden ihr aufregendes Leben und Brüssel wird Hanoi. Keiner von uns braucht mehr Tränen über das arme vietnamesische Volk bei der Frühstückszeitung zu vergiessen. Ab heute geht er in die Konfektionsabteilung von KaDeWe, Hertie, Woolworth, Bilka oder Neckermann und zündet sich diskret eine Zigarette in der Ankleidekabine an. [...]

Wenn es irgendwo brennt in der nächsten Zeit, wenn irgendwo eine Kaserne in die Luft geht, wenn irgendwo in einem Stadion die Tribüne einstürzt, seid bitte nicht überrascht. Genausowenig wie beim überschreiten der Demarkationslinie durch die Amis, der Bombardierung des Stadtzentrums von Hanoi, dem Einmarsch der Marines nach China.

Brüssel hat uns die einzige Antwort darauf gegeben:

Burn warehouse, burn !“15

Zusammen mit dem Flugblatt Nr. 9, das den Lesern mit den Worten „DIE APOKALYPSE VON BRÜSSEL KÖNNEN SIE SELBST ERLEBEN * DURCH REVOLUTION IN ROSÉ * PROPANGAS IN ROT * BEI KEPA UND KA-DE-WEH!“ Hinweise gab, wo Propangasflaschen für die Herstellung von Brandbomben zu erwerben und anzuwenden seien, sah die Staatsanwaltschaft hier den Tatbestand der Aufforderung zu menschengefährdender Brandstiftung gegeben. Am 6. Juli 1967 begann dann im überwiegend mit studentischem Publikum und ca. 60 Pressevertretern gefüllten Saal 500 des Landgerichts Berlin-Moabit der Prozess, der als Moabiter Seifenoper in das kollektive Gedächtnis der Bundesrepublik Deutschland eingegangen ist.

Bei einem Strafprozess handelt es sich um eine kommunikative Gattung, die in hohem Maß durch in der Strafprozessordnung (StPO) kodifizierte Normen geregelt ist. In der StPO finden sich klare Vorschriften zum Ablauf eines Verfahrens, den beteiligten Rollen und das ihnen zustehende Rederecht. Die Kommunikative Gattung des Strafprozesses gliedert sich in weitere kommunikative Praktiken wie den Aufruf der Strafsache, der Feststellung der Anwesenheit von Angeklagten, Zeugen und Beweismitteln, der Vernehmung zur Person der Angeklagten, der Verlesung der Anklageschrift durch den Staatsanwalt, der Vernehmung der Angeklagten zur Sache, der Befragung von Zeugen im Rahmen der Beweisaufnahme, den Plädoyers und [20|21] schließlich der Urteilsverkündung.16 Vorschriften zum Verhalten des Publikums, zur Raumgestaltung, zur Kleidung von Richtern, Staatsanwälten und Verteidigern sind durch das Gerichtsverfassungsgesetz, dessen länderspezifische Ausführungsgesetze und zugehörigen Verordnungen geregelt.

Zudem gibt es weitere subsistente Normen für das Verhalten von Angeklagten vor Gericht, von denen einige aus Anlass des Prozesses gegen Teufel und Langhans von Werner Dolph in der ZEIT kritisch-ironisierend aufgezählt wurden:

„Folgendes muß von einem loyalen Angeklagten erwartet werden: Daß er aufsteht, wenn Juristen vor Gericht mit ihm reden; daß er antwortet, wenn er gefragt wird; daß er beantwortet, was er gefragt wird; daß er nur redet, wenn er gefragt wird; daß er nicht unverschämt wird. Daß er nicht Meinungen vertritt, die seine Richter nicht vertreten; daß er sich zu entlasten sucht; daß er seine Richter gut stimmen will; daß er Ordnungsstrafen als Übel empfindet; daß er bescheiden wirkt. Daß er seinem Pflichtverteidiger unbegrenztes Vertrauen entgegen bringt; daß er dem Gericht mit Ehrfurcht begegnet; daß er dem Staatsanwalt mit Ehrfurcht begegnet; daß er den Saalwachtmeistern mit Ehrfurcht begegnet. Daß er den gerichtlichen Sachverständigen für unfehlbar hält; daß er um mildernde Umstände bittet; daß er nicht fragt, was in den Vorschriften steht, die gegen ihn angewandt werden; daß er erkennt, nicht er habe seine Richter, sondern diese hätten ihn zu beurteilen; daß er erkennt, nicht er habe seinen Gutachter, sondern dieser habe ihn zu begutachten; daß er Reue zeigt.“17

Im Rahmen des Strafprozesses verstoßen die Kommunarden gleich mehrfach gegen die expliziten und subsistenten Normen. Als Verstoß gegen die subsistenten Verhaltensnormen durch die Rolle des Angeklagten mitkonstituiert wird, kann das auffällige Kleidungsverhalten der Kommunarden angesehen werden. Rainer Langhans etwa war zum Prozessauftakt im Frottéehemd und mit Sandalen erschienen, was die BILD-Zeitung als „Camping-Aufzug“ wertete.18 Für einen Polizisten allerdings sah Langhans schlicht aus wie ein Gammler, dem er den Zutritt zum Gerichtssaal mit den Worten untersagen wollte: „Gammler nicht zugelassen“19, worauf Langhans ihm mit gespielter Empörung entgegnete: „Ich bin hier angeklagt!“ (Vgl. Langhans/Teufel 1968.) Am zweiten Prozesstag thematisierte sogar die Frankfurter Allgemeine das Kleidungsverhalten von Langhans: „Überm weißen Unterhemd trägt er ein [21|22] rosa Jäckchen, die Barfüße stecken in Sandalen, in der Hand hat er ein kleines rotes Mao-Büchlein.“20 Im März des Jahres 1968, die Kommune I hatte ihren Kleiderstil vom Informellen zum Extravaganten entwickelt, vermerkte Der Abend anlässlich der Wiederaufnahme des Prozesses, die Kommunarden seien „modisch richtungsweisend“ angezogen gewesen und gegen die „bunte Eleganz des Kommunarden-Looks“ seien „selbst ‚Dressmen‘ nur ein müder Husten.“21 Fritz Teufel war in einem „orangefarbenen Mao-Kittel mit Goldknöpfen“ gewandet, der mit „lila Manschetten und Krägelchen besetzt“ war, und Langhans hatte eine kürzere, lindgrüne Jacke, die „durch rosa Knöpfe und die hellblaue Bluejeans einen aparten Kontrast erhielt“, und einen „rot leuchtenden Ring“ angelegt.22 Zum dritten Prozesstag im Wiederaufnahmeverfahren erschien Teufel gar im Frack mir roter Binde, während Langhans einen Gehrock bevorzugte.23 Schon diese exzessive Herausstellung des Äußeren der Angeklagten zeigt, dass es als deviant empfunden wurde.

Diese Informalität wird auch im nonverbalen Verhalten der Angeklagten sichtbar. Sie zeigt sich in der unverhohlenen Interesselosigkeit und Lustlosigkeit, mit der Teufel und Langhans am Verfahren teilnehmen, statt sich wie ordentliche Angeklagte um ihre Verteidigung und ein gutes Ansehen beim Gericht zu bemühen. So studiert Rainer Langhans, während die Anklage verlesen wird, die ‚Mao-Bibel‘ und zeigt damit offen sein Desinteresse.24 Als sich Fritz Teufel im Brandstifterprozess bei der Einvernahme zur Person nicht erheben, sondern in der Bank sitzen bleiben will, begründet er dies damit, er habe „keine Lust, hier wie ein Schuljunge zu stehen.“25 Das Aufstehen wurde so zum Symbol eines überkommenen Rituals, das lediglich dazu dient, die Autorität eines Gerichts und seines Staates zu inszenieren, die beide in den Augen der Aktivisten der 68er-Bewegung keine Legitimität mehr hatten. Doch auch sonst provozieren die Angeklagten das Gericht durch eine ostentative Laxheit. Etwa durch ungebührliches Stehen:

„SCHWERDTNER: Wenn Sie sprechen, dann lehnen Sie nicht an den Tisch!

LANGHANS: Wieso denn nicht?

SCHWERDTNER: Weil das als Ungebühr vor Gericht ausgelegt werden könnte.

LANGHANS: Wieso kann das so ausgelegt werden?

SCHWERDTNER: Weil es üblich ist, daß man anständig steht vor Gericht.“26

[22|23]

Als er einen Stuhl, auf den er sich bei seiner Aussagen setzen durfte, geräuschvoll durch den Saal schleift, statt ihn zu tragen, fasst der Staatsanwalt das als Provokation auf.

Diese eher indirekten Formen der Missachtung des Gerichts wurden durch explizite Infragestellung der Eignung von Richter und Staatsanwalt verstärkt. Nach dem für einen Strafprozess ungewöhnlichen Verhalten der Angeklagten am ersten Prozesstag, beschließt das Gericht, dass Teufel und Langhans psychiatrisch und neurologisch von Obermedizinalrat Heinz Spengler vom Landesinstitut für gerichtliche und soziale Medizin begutachtet werden sollen. Nachdem der Verteidiger Horst Mahler gegen den Antrag argumentiert hat, ergreift Fritz Teufel das Wort:

„TEUFEL: Ich stimme der Untersuchung zu, wenn die Mitglieder des Gerichts und der Herr Staatsanwalt sich ebenfalls psychiatrisch untersuchen lassen.

Zuhörer klatschen frenetisch

SCHWERDTNER (springt auf): Räumen!! Räumen!! Alles raus!! Pause!! Pause!! Rennt ins Beratungszimmer [...]

LANGHANS (ironisch): Ich kenne mich nicht aus, wie weit das erlaubt ist, aber ich möchte zunächst dem Antrag meines Freundes Fritz beistimmen und ihn folgendermaßen erweitern. Neben der psychiatrischen Untersuchung der Mitglieder des Gerichts, der StA und der Angeklagten soll auch ein Intelligenztest von denselben angefertigt werden, dessen vollständige Ergebnisse ausführlich veröffentlicht werden müssen. _Gericht rennt raus._

TEUFEL u. LANGHANS (rufen hinterher): Husch, husch ins Hinterstübchen!“ (Langhans / Teufel 1968)

Der Antrag auf psychiatrische Begutachtung von Gericht und Staatsanwalt sowie auf Untersuchung ihrer Intelligenz unterstellt, dass sie aufgrund ihres Geisteszustandes nicht geeignet sein könnten, den Prozess zu führen. In gleicher Weise insinuierte Teufel, Richter Schwerdtner leide an einer psychischen Krankheit, die ihn dazu zwinge, Ordnungsstrafen zu verhängen, als er den als Zeugen geladenen Schweizer Psychiater Georgi fragt: „Gibt es in der Psychiatrie eine Krankheit, die man umschreiben könnte mit krankhaftem Verhängen von Ordnungsstrafen. Sind Fälle bekannt und welche Therapie würden sie vorschlagen?“ Die Strafe ist in dieser neuen Lesart nicht mehr legitimes Mittel zur Aufrechterhaltung der Ordnung im Gerichtssaal, sondern wird zum Ausdruck einer Psychopathologie des Richters, die ihre Ursachen in einem autoritären und repressiven Rechtssystem hat.

Virtuos spielt Rainer Langhans auf der invektiven Klaviatur während seiner Einvernahme zur Sache:

„RICHTER SCHWERDTNER: Aber welchen Zweck verfolgten Sie mit den Flugblättern, was wollten Sie damit erreichen? Eine Handlung ist doch zweckbestimmt.

LANGHANS: Das alles ist gar nicht schwierig, deshalb haben wir uns so amüsiert, daß man es in dieser Weise auffassen könnte. Wir haben doch nie gedacht, daß sowas als Aufforderung angesehen werden könnte. Das ist geradezu absurd! (Zum Staatsanwalt) Darf ich fragen, wie Sie überhaupt zu der Auffassung kommen, daß es eine Aufforderung zur Brandstiftung sein soll?

[23|24]

SCHWERDTNER (unterbricht unwillig): Sie haben nicht...

LANGHANS (ihn anbrüllend): Ich kann keinen Satz ausreden, ohne unterbrochen zu werden. Seien Sie jetzt mal still, bis ich fertig bin! (In normalem Ton) Es geht mir jetzt darum, Sie zu fragen, wie Sie darauf kommen können, daß das eine Aufforderung zur Brandstiftung sein könne. Das ist doch blödsinnig.

SCHWERDTNER: Was soll das heißen?

LANGHANS: Das heißt, daß wir Leute, die sich zur Brandstiftung aufgefordert fühlen, nur für blöd halten können und da hat sich das Gericht ja sehr hervorgetan.

STAATSANWALT TANKE: Auch in dieser Formulierung ist ein ungebührliches Verhalten; ich stelle Antrag auf eine Ordnungsstrafe von einem Tag Haft. [...] _(Die Zuschauer kichern)_

LANGHANS (zu den Zuschauern gewendet): Keine lauten Äußerungen, sonst wird der Vorsitzende böse und läßt den Saal räumen. Ich warne sie zum letztenmal!

BEISITZENDER RICHTER: Sie sollten mal Selbstkritik äußern, das ist doch selbst im Osten üblich.

LANGHANS: Was meinen Sie damit, das würde mich sehr interessieren!

SCHWERDTNER: Fragen Sie nicht, Das Gericht fragt!

BEISITZENDER RICHTER: Es ist doch überall so, daß man sich selbstkritisch prüft, in Ost und West.

STAATSANWALT TANKE (laut): Ihre Unglaubwürdigkeit wird durch das, was Sie eben gesagt haben, nur verstärkt. Was war denn Ihre Absicht mit den Flugblättern? Sie sind dem ausgewichen!

LANGHANS: Schreien Sie nicht so!“27

Langhans stellt auch hier die Eignung des Gerichts durch eine Beleidigung in Frage, indem er deutlich macht, dass er Gericht und Staatsanwaltschaft für „blöd“ hält. Er verstößt gegen die subsistenten Normen der kommunikativen Gattung, als er brüllt, sich also eines Lautstärkeregisters bedient, das einem Angeklagten vor Gericht nicht zusteht. Indem er dies tut, ahmt er freilich den Kommunikationsstil des Richters nach. Er bedient sich mehrfach kommunikativer Mittel einer anderen Rolle, als der, die ihm im konventionalen Verfahren der Einvernahme zur Sache zukommt, etwa wenn er die Sprechakte des Fragens, des Verwarnens, und des Entziehens des Wortes benutzt. Zudem beruft er sich auf eine andere kommunikative Gattung, wenn er mit dem Publikum interagiert oder dem Staatsanwalt mit Gegenfragen antwortet, statt dessen Fragen zu beantworten.

Anhand der Anschlusskommunikation in den Printmedien wird deutlich, dass es Langhans und Teufel gelungen ist, durch invektive Praktiken eine Diskussion über Sinn und Unsinn der rituellen Ordnung vor Gericht und ihre mögliche Veränderung zu provozieren. Werner Dolph in der ZEIT: „Strafprozesse sind komplizierte sozialtechnische Vorgänge. Komplizierte sozialtechnische Vorgänge funktionieren nur, wenn jeder Beteiligte die ihm zugedachte Rolle spielt.“ Spiele etwa ein Angeklagter seine Rolle nicht, [24|25]

„so entstehen Anpassungsschwierigkeiten bei den Spielern der übrigen Rollen. […] Ein Angeklagter, dem seine Verurteilung gleichgültig ist, bietet einen merkwürdigen Anblick: Er scheint frei. Die Herren Teufel und Langhans, für Augenblicke bieten sie diesen Anblick. Das von Gesetz und Konvention garantierte Ungleichgewicht der Rollen ist zeitweise gestört.“28

Gerhard Mauz weist im SPIEGEL auf die demaskierende Kraft der Invektiven hin, indem er fragt: „Sind Rainer Langhans und Fritz Teufel gänzlich auf dem Holzweg, wenn sie im Gebälk der Justiz nach dem autoritären Holzwurm suchen?“29 Sogar der Kommentator der Berliner Zeitung vertritt die Meinung, die Justiz hätte sich aber gegenüber Fritz Teufel und seinen kabarettistischen Einlagen so gütig gezeigt, dass von ihr erwartet werden können, dass sie dieselbe Güte auch anderen Angeklagten zuteil werden lasse: „Durch die beharrliche Duldung des Verhaltens dieses Teufel wurden neue Maßstäbe gesetzt. Sie müssen nun für alle gelten – nicht nur für Herrn Teufel!“30 Und Werner Dolph erhob die Forderung nach einer anderen Gerichtspraxis und damit anderen Rollenmustern und zitierte dabei Fritz Teufel:

„Im Jahre 1968 ist die Frage erlaubt, ob sich die Rollenbilder nicht eher an einem selbstbewussten, von der Autorität des Gerichts nicht verschreckten Angeklagten orientieren sollten. Gesetze und Konventionen sollten künftig daran gemessen werden, ob sie der Wahrheitsfindung dienen. Dienen sie ihr nicht, so sollten wir auf sie verzichten.“31

Den Kommunarden ist es gelungen, durch die Inszenierung invektiven Verhaltens eine Debatte nicht nur über die Angemessenheit dieses Verhaltens, sondern auch über die rituell konstituierte Ordnung in Gang zu setzen, in der die Konstitutionsbedingungen dieser Ordnung geradezu seziert werden. Sie haben Invektivität gezielt als eine Ressource genutzt, um das Ziel einer anti-autoritären Gesellschaft zu befördern.

 

Fazit

Metainvektives Handeln hat entsprechend nicht nur das Potenzial, die Grenzen zwischen invektiven und nicht-invektiven Formen und Praktiken zu verschieben. Die metainvektive Debatte ist vielmehr ein Medium der Verhandlung gesellschaftlicher Ordnungsvorstellungen. Und die Beispiele zeigen, dass insbesondere im Kontext sozialer Bewegungen metainvektive Debatten absichtsvoll initiiert wurden, um Ordnungsvorstellungen neu zu verhandeln. Ein Blick auf jene „-ismen“, die in den [25|26] letzten Jahren explizit zur Bezeichnung von Diskriminierungspraktiken geprägt wurden, gibt erste Hinweise: Rassismus, Sexismus, Ableismus, Klassismus, Lookismus, Speziezismus und so weiter - sie belegen, dass die Menge der als marginalisiert geltenden Subjektpositionen, die Objekt diskriminierender Äußerungen sein können, sich ausgedehnt hat. Debatten über die Frage, welche sprachlichen Formen denn zu pejorativen Positionierungen führen, sind damit kein Streit um Wörter. Bei ihnen geht es um viel mehr: Sie aktualisieren Konflikte um Partizipation, um Deutungsmacht und damit um die soziale Ordnung.

 

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Fußnoten