Epistemische Positionierungen in verschwörungstheoretischen Texten
Korpuspragmatische Untersuchung von epistemischer Modalität und Evidentialität am Beispiel der Holocaustleugnung
Joachim Scharloth (Waseda University, Tokyo), Josephine Obert & Franz Keilholz (TU Dresden)
Scharloth, Joachim, Josephine Obert, and Franz Keilholz. "Epistemische Positionierungen in verschwörungstheoretischen Texten. Korpuspragmatische Untersuchung von epistemischer Modalität und Evidentialität am Beispiel der Holocaustleugnung." Zeitschrift für Diskursforschung 4 (2020): 159-198.
▤ Inhalt
Abstract
This article investigates the role of epistemic modality and evidentiality in the construction of knowledge in conspiracy theories. Taking the Holocaust denial discourse as an example, the analysis aims at identifying typical features of the epistemological stance of conspiracy theorists contextualised by the use of linguistic items expressing epistemic modal or evidential meaning. The authors compile a taxonomy of linguistic means to express epistemic modality and evidentiality in German and use corpus pragmatic methods to measure the distribution of the feature sets in a corpus of 23 texts, which deny the historical reality and the extent of the extermination of the Jews by the Nazis and their accomplices, as well as in a corpus of ten scientific publications on the Holocaust. The article comes to the conclusion, that conspiracy theorists significantly more often explicitly mark evidentiality and epistemic modality, indicate extreme and high degrees of conviction of factuality and non-factuality, use reportive evidentiality at a significantly higher rate, and make extensive use of markers of lower degrees of factuality as well as inferential evidentiality in the construction of alternative knowledge.
Der Aufsatz untersucht die Rolle von epistemischer Modalität und Evidentialität bei der Konstruktion von Wissen in verschwörungstheoretischen Texten. Am Beispiel der Leugnung des Holocaust wird gezeigt, wie sprachliche Mittel der Codierung von Sprechereinstellungen zur Faktualität einer Proposition sowie zur Wissensquelle dazu beitragen, eine für Verschwörungstheorien spezifische epistemologische Positionierung zu kontextualisieren. Nach einer intensiven Diskussion der Konzepte der Evidentialität und epistemischen Modalität und ihrer Realisierungsformen im Deutschen wird die Distribution unterschiedlicher sprachlicher Mittel in einem Korpus aus 23 Texten, in denen der Holocaust geleugnet wird, und einem Korpus aus geschichtswissenschaftlichen Texten zum Holocaust untersucht. Es zeigt sich, dass Verschwörungstheoretiker signifikant häufiger Evidentialität und epistemische Modalität explizit markieren, häufiger extreme oder hohe Grade der Faktualität zum Ausdruck bringen, deutlich häufiger quotative Evidentialität evozieren und bei der Konstruktion alternativen Wissens inferentielle evidentielle Formen und Marker geringerer Faktualität benutzen.

 

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1. Begriffsbestimmungen

Das Sprechen und Schreiben von und über Verschwörungstheorien erweist sich vor allem deshalb als schwierig, weil die Grenzen zwischen begründeter Skepsis und der Überzeugung, eine elitäre Macht habe sich im Geheimen gegen den Rest der Welt verschworen, recht uneindeutig sind. Nicht jede Vermutung darüber, dass der Allgemeinheit Informationen zu kritischen Themen vorenthalten werden oder jeder Zweifel an wissenschaftlich belegten Tatsachen lässt sich sogleich als Verschwörungstheorie betiteln.

Unter einer Verschwörung versteht man eine geheime Aktion oder Absprache zwischen mehreren Personen, die meist eigennützige Zwecke zum Nachteil der Allgemeinheit verfolgen (vgl. Hepfer 2016, S. 24). Dass im Weltgeschehen Verschwörungen stattfinden, ist zunächst ein unbestreitbarer Sachverhalt: Sie sind ein „typisches soziales Phänomen“ (Seidler 2016, S. 28), ein Verdacht, der sich in der Vergangenheit trotz anfänglicher Zweifel bereits mehrfach bestätigt hat. Verschwörungstheorien beschreiben den Versuch, ein wesentliches Ereignis als Folge von solchen zielgerichteten, klandestinen Absprachen und Handlungen einer Personengruppe zu erklären. Hinzu kommt häufig eine klare Dichotomie von Freund und Feind, Gut und Böse, „wir“ und „die“ (vgl. Butter 2018, S. 23ff.). Butter bemerkt zudem treffend, dass trotz dieser klaren Abgrenzung immer auch eine gewisse Vagheit dieses Feindbildes typisch für zeitgenössische Verschwörungstheorien ist (ebd., S. 25) – häufig werden diffuse und [160|161] austauschbare Schlagwörter wie Elite, Strippenzieher oder Machthaber als Akteure genannt, ohne diese näher zu definieren.

Auffällig ist, dass der Begriff der Verschwörungstheorie – insbesondere auch der / die Verschwörungstheoretiker / Verschwörungstheoretikerin – im alltäglichen Sprachgebrauch trotz der reellen Möglichkeit von Verschwörungen eine grundlegend ablehnende und pejorative Bedeutung hat (vgl. Vogel 2018), und dies nicht erst seit den letzten Jahren. Bereits Ende des 19. Jahrhunderts lassen sich deutschsprachige Belege finden, in denen implizit ablehnend von Verschwörungstheorien die Rede ist – eine eindeutig negative Aufladung der Bezeichnung besteht also nicht erst seit den letzten Jahren (vgl. Seidler 2016, S. 29f.).

Auch Armin Pfahl-Traughber spricht sich in seinem Aufsatz „'Bausteine' zu einer Theorie über 'Verschwörungstheorien'“ dafür aus, sich in einem wissenschaftlichen Kontext vom Begriff der Verschwörungstheorie zu distanzieren: Denn der Terminus der Theorie sei dort nur für „breit entwickelte, rational begründete Aussagen über einen bestimmten politischen, sozialen oder wirtschaftlichen Sachverhalt“ (Pfahl-Traughber 2002a, S. 33) vorgesehen, was auf Verschwörungstheorien nicht zuträfe. Stattdessen plädiert er für eine Unterscheidung zwischen Verschwörungshypothese, Verschwörungsideologie und Verschwörungsmythos, welche zunächst alle von einer Vermutung einer Konspiration hinter einem bestimmten Ereignis ausgehen. Die Verschwörungshypothese folge zwar Hinweisen auf eine Verschwörung, sei durch empirische Gegenbelege aber durchaus falsifizierbar, während Verschwörungsideologien von einer schablonenhaften, einseitigen Weltanschauung geprägt und nicht mehr korrekturfähig seien. Sie beziehen sich auf die Konspiration von bestimmten, häufig stereotyp dargestellten Personengruppen. Der Verschwörungsmythos schließlich wird als Übersteigung der Verschwörungsideologie definiert, die auch ohne „real existierende“ Feinde auskomme (ebd., S. 32f.). Eine derartige begriffliche Abgrenzung hat sich bisher jedoch nicht einheitlich durchsetzen können.

Gegen Pfahl-Traughbers Kritik am Theoriebegriff sei einerseits die alltagssprachlich gebräuchliche, neutrale Definition von Theorie genannt,1 andererseits sei hier die Feststellung Seidlers angeführt, dass die Bezeichnung bereits im 19. Jahrhundert „keinesfalls auf eine streng wissenschaftliche Theoriebildung, schon gar nicht hinsichtlich heutiger Standards der Wissenschaftstheorie“ (Seidler 2016, S. 30) verweise. Dies schließe jedoch [161|162] keinesfalls aus, dass Verschwörungstheorien auch wissenschaftliche Theorien beinhalten (vgl. ebd.).

Die Bezeichnung Verschwörungstheorie wurde in der Vergangenheit auch aus einem anderen Grund wiederholt kritisiert – so wird ihr vorgeworfen, dass es sich oft um ein „Etikett“ handle, das gebraucht werde, um „die Konkurrenz herabzusetzen oder verkaufsfördernd mit einem hohen Unterhaltungswert zu werben“ (Hepfer 2016, S. 23). Anton et al. konstatieren, dass es sich hierbei um keinen „rein analytischen“, sondern „vielmehr um einen delegitimierenden bzw. stigmatisierenden Begriff“ handeln würde, welcher als Klassifizierung für „disqualifiziertes Wissen“ im foucaultschen Sinne gelte (Anton et al. 2014: 12).

 

2. Der wissenssoziologische Zugang zu Wahrheit

Im Folgenden möchten wir diese negative Beurteilung beider Betrachtungsweisen zwar anerkennen, für diese Arbeit aber trotzdem am Begriff der Verschwörungstheorie festhalten, da dieser sich in der Forschungslandschaft größtenteils etabliert hat. Weiterhin soll bei der Untersuchung weniger der thematische Inhalt im Fokus stehen oder sein Wahrscheinlichkeits- oder Sinngehalt bewertet werden. Ohne die potenziellen Gefahren und demokratiefeindlichen Aussagen, welche von Verschwörungstheorien ausgehen können, abzustreiten oder zu marginalisieren, möchten wir einen Schritt vorher ansetzen. In Anlehnung an die Wissenssoziologie sollen Verschwörungstheorien als eine antihegemoniale Form des Wissens, als Gegenentwurf von anerkannten Wissensbeständen und dem, was als 'wahr' gilt, verstanden werden. Wahrheit bedeutet hier im Sinne Foucaults nicht eine 'absolute Wahrheit', sondern eine „Gesamtheit von geregelten Verfahren für die Produktion, das Gesetz, die Verteilung, das Zirkulierenlassen und das Funktionieren von Aussagen“ (Foucault 2005, S. 107). Das, was als 'Wahrheit' und als 'gültiges' Wissen anerkannt wird, ist zunächst untrennbar und wechselseitig mit den herrschenden Machtverhältnissen verbunden:

Die Wahrheit […] hat in ihr geregelte Machtwirkungen inne. Jede Gesellschaft hat ihre Wahrheitsordnung, ihre allgemeine Politik der Wahrheit: das heißt Diskursarten, die sie annimmt und als wahr fungieren lässt; die Mechanismen und Instanzen, die es gestatten, zwischen wahren und falschen Aussagen zu unterscheiden; […] die Techniken und Verfahren, die wegen des Erreichens der Wahrheit aufgewertet werden: [162|163] die rechtliche Stellung derjenigen, denen es zu sagen obliegt, was als wahr fungiert. (Foucault 2005: 105)

Das Verständnis von Wissen und Wahrheit muss also als eine diskursive Konstruktion gedacht werden: Was sich innerhalb unserer Gesellschaft als wahr qualifiziert, ist stets politischer und ökonomischer Kontrolle ausgesetzt und vor allem eng mit dem wissenschaftlichen Diskurs und den darin verankerten Institutionen verbunden, in denen entschieden wird, was als anerkannter Wissensvorrat produziert und – auch außerhalb jener Institutionen – verbreitet wird. Und mehr noch: Jene, die dieses Wissen in Frage stellen, haben womöglich mit Sanktionen – beginnend bei gesellschaftlichem Ausschluss bis hin zu Gefängnisstrafen – zu rechnen. Hier sind es wiederum Institutionen, welche über diese Sanktionen zu entscheiden haben und die Grenzen des Wahren und Sagbaren abstecken. Bereits durch ihr bloßes Vorhandensein schließen Institutionen jegliche Alternativen zu den erwarteten Handlungs- und Deutungsmustern vehement aus (vgl. Keller 2011, S. 43).

Der Aushandlungsprozess um die Regeln, „denen entsprechend man das Wahre vom Falschen scheidet“, der „Kampf um den Status der Wahrheit“ (Foucault 2005, S. 106) ist stets auch ein Kampf um politische, gesellschaftliche und intellektuelle Macht: „Wissen(schaft) wird so zur gesellschaftlichen Funktion der Reproduktion von Herrschaftsverhältnissen“ (Keilholz/Obert 2018, S. 208). Denn wenn nur bestimmte Diskursgemeinschaften innerhalb einer Gesellschaft über die Konstruktionsmöglichkeiten von Diskursen verfügen, um im Einvernehmen mit der Mehrheit die vorherrschende symbolische Ordnung festzulegen und Abweichungen davon auszugrenzen, so kann von einem hegemonialen Zustand im Sinne Gramscis (1993) gesprochen werden (vgl. Keller 2011, S. 86). Es geht nicht darum, dass Herrschaft und Meinungsführerschaft allein mit Zwang durchgesetzt werden, vielmehr geschieht dies, folgt man Gramsci, durch Aushandlung über den kollektiven Willen der herrschenden und der untergeordneten Gemeinschaft. Etabliert wird der kollektive Wille durch die società civile, die „Zivilgesellschaft“, deren Ausprägungen bei Gramsci auch als „Hegemonieapparate“ (Gramsci 1994, S. 782) bezeichnet werden. Diese umfassen verschiedene soziale Bereiche und die darin integrierten Vereinigungen, in denen primär um die kulturelle, aber auch politische Hegemonie gekämpft wird: Bildungseinrichtungen, Kirchen, Vereine und ähnliche Institutionen (vgl. Langemeyer 2009, S. 75). Diese dienen der Produktion und Reproduktion von legitimiertem staatlichen Handeln und damit auch von Wahrheit und wahrem Wissen.

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Verschwörungstheorien fallen demnach eben nicht in die – momentane, aber nicht statische – hegemonial festgelegte Kategorie der gültigen Wissensbestände und dem, was gesellschaftlich als Wahrheit verstanden wird, sondern stellen in ihr eine suspekte Abweichung dar. Innerhalb dieses abweichenden Diskurses geht es nun ebenso darum, die eigenen Wissensbestände einerseits als wahr darzustellen, Fakten zu schaffen und ihre Meinung durchzusetzen und sie andererseits gegen abweichende Behauptungen zu verteidigen, „um dadurch eine einzige, gültige Wahrheit zu etablieren“ (Bender Larcher 2015, S. 205).

Wie dies mit sprachlichen Mitteln geschieht, soll im Folgenden sowohl am Beispiel von Texten eines hegemonialen Diskurses als auch an verschwörungstheoretischen Texten zum Holocaust bzw. zu dessen Leugnung untersucht werden.

 

3. Epistemische Modalität und Evidentialität

Die Konstruktion von Wissen in Texten ist in der Wissensgesellschaft an bestimmte Verfahren gebunden, namentlich die Referenz auf außertextuelle empirische Sachverhalte (der Verweis auf Experimente, Befragungen, Quellen, Studien etc., deren Inhalte referiert werden) sowie die Erzeugung von Evidenz (durch Bewertung, Ableitung und Synthese). Auch wenn diese Verfahren ihrem Wesen nach verschieden zu sein scheinen, sind sie hinsichtlich ihrer Funktion für die angestrebte Wissenskonstruktion kaum voneinander zu trennen.

So ist jede Sachverhaltsdarstellung das Ergebnis einer Selektion aus möglichen anderen Sachverhaltsdarstellungen, die normalerweise von dem Prinzip größtmöglicher Evidenz geleitet ist. Ebenso kann nicht jede Sachverhaltsdarstellung im Text so detailliert werden, dass ihre Faktualität als nachgewiesen gelten kann – ihre Geltung innerhalb der Argumentation ergibt sich vielmehr aus der Art und Weise, wie sie vom Autor / von der Autorin bewertet wird. Umgekehrt erhebt jede Ableitung neuen Wissens aus als faktual eingeführten Wissensbeständen den Anspruch, ebenso gültig zu sein wie diese. Wissen konstruierende Texte nehmen freilich auch auf nicht-affirmative Weise Bezug auf Wissen – dies gilt insbesondere auch für verschwörungstheoretische Texte. Sie kennzeichnen Sachverhalte als nicht-faktual, reflektieren die Quellen von Sachverhaltsdarstellungen und bewerten den Geltungsbereich des neu erzeugten Wissens kritisch.

Weil sich Wissenskonstruktion in Texten und mithin im Medium der Sprache vollzieht, ist ihre Untersuchung ein genuiner Gegenstand der [164|165] Linguistik. Sachverhaltskonstruktionen und -bewertungen durch Nomination (vgl. Bubenhofer 2009) oder Argumentation (vgl. Wengeler 2003) waren schon häufiger Gegenstand diskurslinguistischer Betrachtung. Seltener sind die sprachlichen Mittel, mit denen Autorinnen und Autoren sich zu Propositionen positionieren, für diskurslinguistische Forschungsfragen fruchtbar gemacht worden – und dies, obwohl mit ihnen grundlegende Operationen der Wissenskonstruktion themenabstrakt vollzogen werden.

In der Linguistik werden die sprachlichen Mittel, mit denen sich Sprecherinnen und Sprecher zum Inhalt ihrer Aussagen positionieren, aus der konzeptuellen Perspektive von epistemischer Modalität und Evidentialität untersucht. Der Begriff der Modalität wird dabei in der Kant’schen Tradition verstanden als jener Teil einer Äußerung, der selbst nichts zum eigentlichen Inhalt einer Äußerung (zur Proposition) beiträgt, sondern zum Ausdruck bringt, inwieweit dem Sprecher bzw. der Sprecherin die Proposition als notwendig, wahrscheinlich etc. gilt. Im Zuge der Entfaltung des Modalitätsbegriffs im Rahmen der Logik wurde zunächst zwischen deontischer und epistemischer Modalität unterschieden.2 Während die deontische Modalität objektive Notwendigkeit, Verpflichtung oder Erlaubnis bzw. Verbot ausdrückt, beinhaltet die epistemische Modalität eine Stellungnahme des Sprechers bzw. der Sprecherin zum Gültigkeitsgrad seiner bzw. ihrer Aussage (vgl. Schümann 2010, S. 180f.).

Teils als spezifische Ausprägung der epistemischen Modalität, teils als Modalität eigenen Rechts wurde die evidentielle Modalität identifiziert, mit der Sprecherinnen und Sprecher die Quelle einer Aussage qualifizieren.

As a rule of thumb, one can say that while evidentiality indicates the source of evidence a speaker has for making a statement, without necessarily accompanying that with a factuality judgment, epistemic modality, is concerned exactly and exclusively with the latter, i.e. with the degree of factuality a speaker attributes to a proposition. (Diewald/Smirnova 2010a, S. 6)

In der Sprachwissenschaft wurden diese Unterscheidungen je nach linguistischem Erkenntnisinteresse funktional-semantisch und grammatikalisch rezipiert, was in eine weitere und eine engere Definition von epistemischer Modalität und Evidentialität mündete.

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Die engeren, besonders in der typologischen Forschung formulierten Definitionen schränken die Begriffe der epistemischen Modalität und der Evidentialität auf die in der Grammatik einer Sprache codierten Aspekte ein. So definiert beispielsweise Aikhenvald (2004, S. 6) linguistische Evidentialität wie folgt: „Linguistic evidentiality is a grammatical system (and often one morphological paradigm).“ Auch wenn jede Sprache über Mittel verfüge, die Quelle einer Aussage zu spezifizieren, erlaube erst deren zwingende Markierung die Rede von Evidentialität: „In languages with grammatical evidentiality, marking how one knows something is a must.“ (Aikhenvald 2004, S. 6) Einige grammatikalische Mittel können in Sprachen ohne ein ausgebautes Paradigma zwar „a secondary evidential-like meaning“ (Aikhenvald 2003, S. 2) ausdrücken, aufgrund ihrer mangelnden Eindeutigkeit und Systematizität erkennt Aikhenvald ihnen aber lediglich den Status von Evidentialitätsstrategien (evidentiality strategies) zu. Nur etwa ein Viertel aller Sprachen der Welt verfügen demnach über eine morphologisch markierte grammatikalische Kategorie der Evidentialität (vgl. Aikhenvald, 2004, S. 1). Angesichts solcher eindeutigen, an der sprachlichen Oberfläche sichtbaren Kriterien für das Vorliegen von Evidentialität und epistemischer Modalität lassen sich, folgt man Aikhenvald, Evidentialität und epistemische Modalität nicht nur logisch, sondern auch empirisch klar voneinander trennen: „Evidentiality is a category in its own right, and not a subcategory of any modality“(Aikhenvald 2004, S. 7).

Gegen diese enge Definition wurden aus unterschiedlicher Perspektive Einwände erhoben. Diewald und Smirnova (2010a, S. 3) unterscheiden grammatikalisierte Indikatoren (grammaticalized evidential expressions; nur sie werden evidentials oder evidential markers genannt) und „ad hoc lexical-semantic circumscriptions of evidential meanings“, allerdings wehren sie sich dagegen, grammatikalische Kategorie und konzeptuelle Domäne gleichzusetzen: „Equating the grammatical category with the name of the conceptual domain, i.e. ‚evidentiality‘, is analogous to equating the grammatical category ‚tense‘ with the conceptual domain ‚temporality‘“ (Diewald/Smirnova 2010b, S. 4) Der Grund hierfür ist, dass eine strikte Gleichsetzung dem Wesen der Grammatikalisierung als Prozess nicht gerecht werde und deshalb den Blick verstelle für Analysen auch der Zwischenstufen der Codierung von Evidentialität. Wie Aikhenvald betonen Diewald und Smirnova den logischen Unterschied zwischen Evidentialität und epistemischer Modalität:

Epistemic modality concerns the linguistic encoding of a deictic factuality judgment of the speaker concerning the described event. […] [166|167] Evidentiality concerns the linguistic encoding of the information source, i.e. the type of source the speaker adduces for the described event. […] The essential contrast between them is the fact that the modal source in epistemics is not explicitly expressed, while it is encoded in the evidentials as the secondary predication. (Diewald/Smirnova 2010a, S. 87)

Sie stellen jedoch gleichzeitig für das Deutsche fest, dass „German evidentials very often have epistemic modality meanings as concomitant features.“ (Diewald/Smirnova 2010a, S. 3)

Im weitesten Sinn verwendet Chafe (1986) den Begriff der Evidentialität, indem er den Unterschied zwischen Evidentialität und epistemischer Modalität faktisch aufgibt. In seiner Untersuchung von Evidentialitätsmarkern in englischen Alltagsgesprächen und akademischer Prosa bestimmt er das Verbindende aller untersuchten sprachlichen Phänomene, dass sie „attitudes toward knowledge“ (Chafe 1986, S. 262; vgl. ebd., S. 271) zum Ausdruck bringen. Die Markierung von Einstellungen zur Faktualität und von Einstellungen zu den Quellen von Aussagen werden dabei dem Begriff der Evidentialität subsummiert (vgl. hierzu auch Cornillie 2007, S. 6). Andere Linguistinnen und Linguisten wie beispielsweise van Auwera und Plungian (1998, S. 85f.) argumentieren, dass die Markierung der Erkenntnisquelle auch eine Bewertung des faktualen Gehalts implizieren könne, beispielsweise im Falle inferentieller Evidentialität.

 

4. Epistemische Positionierung

Da im vorliegenden Beitrag deutsche Texte analysiert werden und im Deutschen die Herkunft von Wissen hinsichtlich einer Proposition und die Einschätzung der Faktualität dieser Proposition vorwiegend mittels nicht-grammatikalisierter sprachlicher Formen geschieht, ist eine Orientierung an weiten Definitionsansätzen für epistemische Modalität und Evidentialität geboten. Ziel des Beitrags ist es, die Verwendung epistemisch-modaler Ausdrücke (Wie steht der Autor/die Autorin zur Faktualität?) und die Markierung von Evidentialität (Was ist die Quelle des Wissens des Autors/der Autorin?) daraufhin zu befragen, wie sie zur Konstruktion von (alternativem) Wissen eingesetzt werden. Es geht also um eine Pragmatik des Einsatzes epistemisch-modaler und evidentieller sprachlicher Mittel und der mit ihrem Einsatz verfolgten pragmatischen Zwecke. „In this way, the object of investigation is recast as a thing that speakers do, rather than a predetermined set of form/meaning correspondences (e.g. a morphological system or a [167|168] set of lexical items).“ (Mushin 2001, S. 51) Mittels der vorgestellten Analyse sollen die unterschiedlichen Arten des doing epistemology und doing evidentiality und ihr Beitrag zu den spezifischen epistemischen Positionierungen herausgearbeitet werden, die in unterschiedlichen Diskursen bei der Konstruktion von Wissen benutzt werden.

Der Begriff der epistemischen Positionierung wird hier in Anlehnung an das Konzept der epistemological stance verwendet, wie es schon früh von Mushin (2001) geprägt wurde und das sich mit dem Konzept der speaker’s stance, das von Haßler (2015) im Hinblick auf epistemisch-modale und evidentielle Sprecherpraktiken verwendet wurde, gut in Einklang bringen lässt. Die Rede von Positionierung als Ergebnis sprachlicher Praktiken verdankt sich der Einsicht, dass die Wahl einer bestimmten evidentiellen Form nicht von der tatsächlichen Quelle des Wissens determiniert wird, sondern das Ergebnis pragmatischer Erwägungen ist (Mushin 2001, S. 54f.). Dies gilt selbstverständlich auch für Sprecherinnen und Sprecher von Sprachen mit grammatikalisiertem Evidentialissystem.

Die  von pragmatischen Zwecken geleitete Wahl bestimmter epistemisch-modaler und evidentieller Praktiken machen die epistemische Positionierung zu einer relevanten Analysekategorie für eine Diskurslinguistik, die sich für die Frage interessiert, welche Strategien in hegemonialen und peripheren Diskursen eingesetzt werden, um gültiges Wissen zu konstruieren.

Die Evidentialitätsforschung hat eine Reihe typischer epistemological stances herausgearbeitet. Da sowohl epistemische Modalität als auch Evidentialität deiktische Kategorien sind (Diewald/Smirnova 2010a, S. 87), beruht ihre Klassifikation auf dem Verhältnis des Sprechers bzw. der Sprecherin zur geäußerten Proposition bzw. ihrer Wissensquelle. Während epistemisch-modale Ausdrücke immer die Einschätzung des Sprechers bzw. der Sprecherin wiedergeben, können evidentielle Ausdrücke entweder eine direkte (1) Involviertheit des Sprechers bzw. der Sprecherin in den dargestellten Sachverhalt zum Ausdruck bringen (1a) oder seine bzw. ihre Zeugenschaft (1b) als Wissensquelle. Sie können aber auch eine indirekte Wissensquelle (2) in Form einer Schlussfolgerung (2a), eines Berichts Dritter (2b) oder einer faktualen Darstellung, die die Wissensquelle nicht markiert (2c), spezifizieren.3

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Abbildung 1
Abbildung 1: Typen epistemologischer Positionierung nach Mushin (2001, S. 81)

Während das Feld der Evidentialität abhängig von der Involviertheit bzw. Unsichtbarkeit des Sprechers bzw. der Sprecherin nach unterschiedlichen Graden der Subjektivität bzw. Objektivität strukturiert ist, wird epistemische Modalität graduell nach der (Un-)Sicherheit oder (Un-)Wahrscheinlichkeit gegliedert, die ein Sprecher bzw. eine Sprecherin gegenüber der Faktualität einer Proposition zum Ausdruck bringt. So geht Hyland (1998, S. 2) von einem Kontinuum aus, das von „uncertain possibility to confident necessity“ reicht; Chafe (1986, S. 264) bestimmt die Dimension der epistemischen Modalität als ein Kontinuum, auf dem eine Aussage abhängig von ihrem „degree of reliability, the likelihood of its being a fact“ positioniert wird.

Im Folgenden sollen zunächst jene sprachlichen Mittel referiert werden, die im Deutschen geeignet sind, epistemische Modalität und Evidentialität auszudrücken. Im Anschluss daran sollen diese sprachlichen Mittel daraufhin befragt werden, inwiefern sie sich im Rahmen einer korpuspragmatischen Analyse operationalisieren lassen.

 

5. Methode und Operationalisierung

Die folgenden Untersuchungen werden mittels korpuspragmatischer Methoden durchgeführt. Die Korpuspragmatik deutet signifikant häufig auftretende sprachliche Muster in Korpora als Ergebnis rekurrenter Sprachhandlungen der Autorinnen und Autoren der im Korpus enthaltenen Texte bzw. der sie autorisierenden Institutionen und Gruppen (vgl. Scharloth/Bubenhofer 2012, S. 232). Für die von Foucault inspirierte Diskurslinguistik sind korpuslinguistische Methoden insofern attraktiv, als sie es erlauben, Serien von Aussagen effizient quantitativ zu untersuchen. So lassen sich in Korpora, die bestimmte thematische Diskurse repräsentieren, musterhaft auftretende Elemente entdecken und ihre Verwendung als Indiz für implizit wissensformierende diskursive Strukturen deuten (vgl. Scharloth/Eugster/Bubenhofer 2013). [169|170] Besonders deutlich werden diese Strukturen beim Korpusvergleich sichtbar (vgl. Bubenhofer/Scharloth 2012, S. 234-237). Entsprechend soll in der folgenden Analyse der hegemoniale wissenschaftliche Diskurs zum Holocaust mit dem verschwörungstheoretischen, gleichwohl mit wissenschaftlicher Attitüde inszenierten Diskurs der Holocaustleugnung verglichen werden. Auch wenn wir an anderer Stelle einen an den Prinzipien des Grounded-Theory-Paradigmas orientierten datengeleiteten Ansatz favorisieren (vgl. Scharloth 2018), soll hier wegen der Fokussierung auf eine spezifische Analysekategorie die Kategorienbildung nicht induktiv aus den Daten erfolgen. Stattdessen wollen wir uns bei der Bestimmung dessen, wie epistemische Positionierung korpuslinguistisch messbar gemacht werden kann, an einschlägigen Forschungsarbeiten orientieren.

Die Sprachwissenschaft hat für das Deutsche unterschiedliche sprachliche Mittel zum Ausdruck von epistemischer Modalität und Evidentialität herausgearbeitet, die wir für unsere Untersuchung in Tabelle 1 zusammengetragen haben. Aufgrund der in den vorigen Abschnitten festgestellten Überschneidungen bzw. kontextabhängigen Interpretation im einen oder anderen Sinn werden diese sprachlichen Mittel in der Tabelle mit je prototypischen Beispielen für die jeweilige Funktion dargestellt, wobei meist beide Interpretationen, die epistemisch-modale und die evidentielle, möglich sind. Wo eine der semantischen Interpretationen nicht möglich ist, bleibt das Feld leer.

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Sprachliche Mittel Interpretation als Ausdruck epistemischer Modalität Interpretation als Ausdruck von Evidentialität Korpuslinguistische Operationalisierung
[1] Modalverben mit Vermutungsbedeutung (Helbig/Buscha 2001, S. 136)
Sie können nur im Präsens und Präteritum gebraucht werden, mögen kommt nur im Indikativ vor, dürfen hingegen praktisch nur im Konjunktiv Präteritum. Sie treten fast ausschließlich in Verbindung mit infiniten durativen Verben (und dem Verb sein) auf.
Gradierung: müssen (sicherlich, gewiss), dürfen (wahrscheinlich), mögen (einräumende Vermutung) und können (ungewiss, vielleicht).
„Der Autor stimmt darin überein, dass es sicherlich dort ein Krematorium gegeben haben muss.“
Deutung als Inferential-Kennzeichnung (Socka 2008, S. 378) – nur muss / müssen und dürfte.
„Von 1937 bis Anfang 1943 dürfte die Zahl der Juden in Europa teils durch Sterbeüberschuß der Juden in Mittel- und Westeuropa, teils durch Evakuierungen […] um schätzungsweise 4 Millionen zurückgegangen sein.“4
Analyse aller Formen von „muss/müssen“ und „dürfte(n)“ in beiden Korpora
[2] Modalverben mit der Bedeutung einer fremden Behauptung (nur sollen und wollen)   Markiert Zitatcharakter der mitgeteilten Information, wobei die Faktizitätsbewertung immer die des originalen Sprechers ist (Socka 2008: 382)
„Die Polish Historical Society kommt denn auch zu dem Schluß, daß man angesichts dieser Beweise die Opferzahl […], die in der Zeit ebenso vergast worden sein sollen, reduzieren müsse“
Analyse der Distribution der Modalverben sollen und wollen in subjektiver Verwendung
[3] Konstruktionen, in denen unterschiedliche lexikalische Mittel als Indikatoren für epistemische Modalität und Evidentialität stehen (analog zu Perkins 1983, Modalwörter) Codierung unterschiedlicher Grade der Gewissheit / Wahrscheinlichkeit:   Codierung von Wissensquellen (häufig inferentiell, bisweilen auch quotativ):   Globale Analyse von Konstruktionen zum Austausch von Informationen (Glaboniat et al. 2002)
1. deverbale und nicht-deverbale Adjektive diskutabel, zweifelhaft, gesichert, möglich, die wahrscheinlichste Hypothese, offensichtlich, eindeutig, hypothetisch, evident, falsch folglich, erklärlich, angeblich Distribution von Lexemen und Phrasen, die auf epistemische Positionierung verweisen. Selbst erstellte Wortlisten (s. Anhang) anhand von Synonymie-, Hyperonymie- und Kohyponymie-Beziehungen aus GermaNet (Hamp/Feldweg 1997) und Synonymie-Beziehungen aus Open Thesaurus (Free Software Foundation o.J.) und Woxikon (synonyme.woxikon.de)
2. auf Handlungen und mentale Zustände referierende Partizipien damit ist X erwiesen, darf bezweifelt werden hieraus kann gefolgert werden (inferentiell), in … wird behauptet (quotativ)
3. modale Adverbien Zweifellos …, Wahrscheinlich …, möglicherweise, sicher angeblich, offensichtlich, vorgeblich (quotativ)
4. modale Nomen und Verben Dies ist eine Tatsache., ... nur eine Hypothese, Täuschung, spekulieren, glauben Hörensagen, Zeugenaussage, Behauptung, schließen, ableiten Nomen: s. 1–3 (vgl. Liste im Anhang); Verben: Analyse der Distribution von Kommunikationsverben (Harras et al. 2004)  
[4] Konstruktionen mit epistemisch-modalem oder evidentiellem Matrixsatz und folgendem Inhaltssatz mit dass Tatsache ist, dass ..., Es bestehen erhebliche Zweifel, dass ... berichtet, dass … (quotativ), Dies zeigt, dass … (inferentiell) Analyse der Frequenz der Konstruktion und der Distribution von Verben im Matrixsatz
[5] periphrastische Formen mit den Modalitätsverben drohen, versprechen, scheinen + Infinitiv mit zu sowie werden + Infinitiv (Diewald/Smirnova 2010a, S. 8)   „Bis 1960 waren so viele Zweifel an den reichsdeutschen Gaskammern laut geworden, daß die gesamte Holocaust-Geschichte ins Wanken zu geraten drohte.“ (inferentiell) Frequenzanalyse von Modalitätsverben + Infinitiv mit zu
[6] quotativer Konjunktiv (indirekte Rede, Nuyts 2001, S. 196)   „oder jener andere Zeuge, der erzählte […], für dererlei sportliche Anlässe habe sich der Raum gut geeignet“ Modusanalyse und Analyse der Distribution der indirekten Rede in beiden Korpora
[7] quotative Präpositionen (laut, zufolge, gemäß) (Socka 2008, S. 382)   „Laut den sowjetischen Anklägern ermordeten die Deutschen im KZ Sachsenhausen nicht weniger als 840.000 russische Kriegsgefangene.“ Analyse der Distribution der quotativen Präpositionen in beiden Korpora
Tabelle 1: Übersicht über sprachliche Mittel zur Markierung von epistemischer Modalität und Evidentialität im Deutschen sowie über die korpuslinguistische Operationalisierung im Rahmen der vorliegenden Studie (eigene Darstellung). [171-173]

Nicht alle sprachlichen Mittel lassen sich gleichermaßen gut korpuslinguistisch messen. So ist die globale Analyse von Konstruktionen zur Vergabe von Informationen eine eher grobe Annäherung an die große Vielfalt an Konstruktionen, die mittels lexikalischer Indikatoren epistemische Modalität und Evidentialität codieren ([3]). Auch bilden die lexikalischen Mittel in den Subkategorien ([3], 1.–4.) keine abgeschlossene Klasse, sodass die mittels unterschiedlicher semantischer Taxonomien erstellten Wortlisten notwendig unvollständig bleiben. Andere sprachliche Mittel wie das Modalverb kann mit Vermutungsbedeutung (in [1]) oder Konstruktionen mit werden + Infinitiv (in [5]) sind nur durch qualitative Korpusanalysen zu bewerkstelligen, was angesichts der hohen Fallzahlen der Konstruktionen jedoch den Rahmen dieser Untersuchung sprengen würde. Auch im Fall der Verwendung von Modalverben in vermutender und behauptender Bedeutung war eine qualitative Codierung nötig. Teilweise überlappen sich die Untersuchungskategorien auch wie die Konstruktionen in [3] mit den epistemisch-modalen oder evidentiellen Matrixsätzen mit folgendem Inhaltssatz [173|174] ([4]).5 Dennoch wird es möglich sein, anhand des Korpusvergleichs spezifische Muster der epistemischen Positionierung zu identifizieren.

 

6. Die Korpora

Das Korpus mit Texten, die den Holocaust leugnen, umfasst Schriften von den 1960er bis in die 2000er Jahre, die über das Internet zugänglich waren. Sie entstammen damit vorwiegend jener Phase der Holocaustleugnung, in der sich die Leugner einer geplanten, systematischen Vernichtung der europäischen Juden durch die Nationalsozialisten durch vermeintlich wissenschaftliche Text den Anschein seriöser historischer Forschungstätigkeit geben wollten, um für die Propaganda rechtsextremer und neonazistischer Provenienz als Autoritäten zitierbar zu sein (vgl. Benz 2009, S. 404f.).

Mit den Schriften des Amerikaners Arthur Butz, der Schweizer Jürgen Graf und Bernhard Schaub, der Deutschen Germar Rudolf (der auch unter dem Pseudonym Ernst Gauss publizierte) und Udo Walendy sowie des Italieners Carlo Mattogno gehören die Texte zentraler Figuren der pseudowissenschaftlichen Leugnung des Holocaust zum Korpus. Es umfasst insgesamt 23 Einzeltexte mit 1.568.393 laufenden Wortformen (1.881.295 Token) (vgl. Tabelle 2).

Titel Sigle Wortformen Token
Anonymus (2002): Einleitung in den historischen Revisionismus. The Holocaust did not happen in Germany. Hastings: Castle Hill Publishers. Anonymus 2002 6408 67278
Butz, Arthur R. (1976): Der Jahrhundertbetrug. Originaltitel der Englischen Ausgabe „The Hoax of the Twentieth Century“. Vlotho: Verlag für Volkstum und Zeitgeschichtsforschung. Butz 1976 152760 118739
Franz-Willing, Georg (1992): Vergangenheitsbewältigung. Bundesrepublikanischer Nationalmasochismus. Coburg: Nation Europa-Verlag. Franz-Willing 1992 56273 94187
Gauss, Ernst (1992): Vorlesungen über Zeitgeschichte. Strittige Fragen im Kreuzverhör (Veröffentlichungen des Institutes für deutsche Nachkriegsgeschichte; Bd. 19). Tübingen: Grabert-Verlag. Gauss 1992 100272 108188
Gauss, Ernst (Hrsg.) (1994): Grundlagen zur Zeitgeschichte. Ein Handbuch über strittige Fragen des 20. Jahrhunderts. Tübingen: Grabert Verlag. Gauss 1994 200308 49653
Rudolf, Germar (2005a): Auschwitz Lügen. Legenden, Lügen, Vorurteile von Medien, Politikern und Wissenschaftlern über den Holocaust. Hastings: Castle Hill Publishers. Rudolf 2005a 124593 9008
Rudolf, Germar (2005b): Holocaust Revisionismus. Eine kritische geschichtswissenschaftliche Methode. Hastings: Castle Hill Publishers. Rudolf 2005b 41659 30146
Rudolf, Germar (2005c): Kardinalfragen an Deutschlands Politiker. Aufforderung zur Wiederherstellung der Menschenrechte in Deutschland. Hastings: Castle Hill Publishers. Rudolf 2005c 134626 150945
Rudolf, Germar (2005d): Vorlesungen über den Holocaust. Strittige Fragen im Kreuzverhör. Hastings: Castle Hill Publishers. Rudolf 2005d 202466 49539
Rudolf, Germar (2015): Das Rudolf Gutachten. Gutachten über die „Gaskammern“ von Auschwitz. 2., stark erweiterte und korrigierte Ausgabe. Uckfield: Castle Hill Publishers. Rudolf 2015 77877 159681
Graf, Jürgen (1994): Auschwitz. Tätergeständnisse und Augenzeugen des Holocaust. Würenlos: Voltaire, Neue Visionen. Graf 1994 91166 247902
Graf, Jürgen (1995): Der Holocaust im Klassenzimmer. Oder: Todesursache Zeitgeschichtsforschung. o.O.: o.V.. Graf 1995 40497 19262
Graf, Jürgen (1998): Der Holocaust auf dem Prüfstand. Augenzeugenberichte versus Naturgesetze. o.O.: AAARGH. Graf 1998 29523 34765
Graf, Jürgen (1999): Riese auf tönernen Füßen. Raul Hilberg und sein Standardwerk über den „Holocaust“. Hasting: Castle Hill Publishers. Graf 1999 41072 14042
Graf, Jürgen (2003): Menschenvergasungen der Kriegszeit. Zeugenaussagen über Menschenvergasungen in deutschen Konzentrationslagern der Kriegszeit. o.O.: o.V.. Graf 2003 7650 180469
Graf, Jürgen (2004): Der Holocaustschwindel. Eine Hinterfragung der jüngsten deutschen Vergangenheit, die nicht vergehen will. o.O.: Guideon Burg Verlag. Graf 2004 29363 7583
Harwood, Richard E. (2005): Starben wirklich sechs Millionen? o.O.: AAARGH. Harwood 2005 25637 245891
Mattogno, Carlo (o.J.): Auschwitz: Das Ende einer Legende. Historisch-technische Überlegungen. o.O.: Guideon Burg Verlag. Mattogno o.J. 18196 34826
Schaub, Bernhard (2007): Der Weg zum Reich. Chronologie und Aufruf. Vlotho: Reichsbewegung. Schaub 2007 16596 47929
Verbeke, Herbert (2003): Die verbotene Wahrheit. Betrachtungen zu einer Vergangenheit, die nicht vergehen will - Fragen zu einer Offenkundigkeit, die weder offen noch kundig ist. o.O.: o.V.. Verbeke 2003 13898 35013
Walendy, Udo (1964): Wahrheit für Deutschland. Die Schuldfrage des Zweiten Weltkrieges. Vlotho: Verlag für Volkstum und Zeitgeschichtsforschung. Walendy 1965 116458 21852
Walendy, Udo (1994): Historische Tatsachen Nr. 1. Kriegs-, Verbrechens- oder Propagandaopfer? Vlotho: Verlag für Volkstum und Zeitgeschichtsforschung. Walendy 1994 29125 16168
Weckert, Ingrid (2004): Auswanderung der Juden aus dem Dritten Reich. 2. Auflage. Hastings: Castle Hill Publishers. Weckert 2004 11970 138229
Tabelle 2: Übersicht über das Korpus mit Texten, in denen der Holocaust geleugnet wird. [174-176]

Das Vergleichskorpus setzt sich aus Buchpublikationen zum Thema Holocaust zusammen, die überwiegend von Autoren, die auf eine akademische Laufbahn verweisen können, verfasst wurden. Teilweise wurden sie auch von zeithistorisch arbeitenden Journalisten angefertigt.6 Die insgesamt zehn Publikationen aus den 2000er und 2010er Jahren sollen den hegemonialen, von einer verwissenschaftlichten Geschichtsschreibung geprägten Diskurs über den Holocaust repräsentieren, auch wenn sie in sich durchaus heterogen und kontrovers sind.

Titel Sigle Wortformen Token
Aly, Götz (2006): Hitlers Volksstaat: Raub, Rassenkrieg und nationaler Sozialismus. Frankfurt am Main: Fischer. Aly 2006 119254 147189
Aly, Götz (2017): Endlösung: Völkerverschiebung und der Mord an den Europäischen Juden. Frankfurt am Main: Fischer. Aly 2017 112795 143035
Aust, Stefan / Thomas Ammann (2013): Hitlers Menschenhändler: Das Schicksal der 'Austauschjuden'. Berlin: Rotbuch. Aust 2013 93994 112363
Benz, Wolfgang (2000): Geschichte des Dritten Reiches. München: C.H. Beck. Benz 2000 68060 79649
Benz, Wolfgang (2014): Der Holocaust. München: C.H. Beck. Benz 2014 33232 39188
Goldhagen, Daniel Jonah (2012): Die katholische Kirche und der Holocaust: Eine Untersuchung über Schuld und Sühne. Berlin: Siedler. Goldhagen 2012 151807 178954
Gross, Raphael (2013): November 1938: Die Katastrophe vor der Katastrophe. München: C.H. Beck. Gross 2013 35867 41937
Herbert, Ulrich (2016): Das Dritte Reich: Geschichte einer Diktatur. München: C.H. Beck. Herbert 2016 36136 41918
Rees, Laurence (2009): Auschwitz. 4. Auflage. Hamburg: Ullstein. Rees 2009 115587 137175
Steinbacher, Sybille (2015): Auschwitz. Geschichte und Nachgeschichte. München: C.H. Beck. Steinbacher 2015 32090 37358
Tabelle 3: Übersicht über das Korpus mit Texten aus der akademischen Auseinandersetzung mit dem Holocaust. [176|177]

Das Korpus hat einen Umfang von 798.822 laufende Wortformen (958.766 Token) und ist damit etwa halb so groß wie das Korpus mit Texten, in denen der Holocaust geleugnet wird.

Während die wissenschaftlichen Texte als eBooks im epub-Format zugänglich waren und sich entsprechend leicht zur Weiterverarbeitung in Plain-Text-Dateien umwandeln ließen, lagen die Texte der Holocaustleugner nur als PDF vor, was Schwierigkeiten bei der Umwandlung der Texte in Plain-Text-Dateien zur Folge hatte. Insbesondere die Platzierung von Kapitelmarken, die Zuordnung von Fußnoten und die Zusammenführung silbengetrennter Wortbestandteile konnte nicht in allen Fällen befriedigend rekonstruiert werden. Beide Korpora wurden mithilfe der Software TreeTagger (Schmid 1999) lemmatisiert und mit Wortartinformationen annotiert.

 

7. Epistemische Positionierung im wissenschaftlichen Diskurs über den Holocaust und im Diskurs der Holocaustleugner
7.0 Globale Analyse sprachlicher Muster des Informationsaustauschs

Um einen ersten Eindruck davon zu bekommen, in welchem Maß beide Korpora die Darstellung von Wissen explizit thematisieren, wurde auf eine elaborierte Taxonomie von Sprachhandlungen zurückgegriffen, die für handlungstheoretisch fundierte Ansätze im Bereich Deutsch als Fremdsprache entwickelt wurde (Glaboniat et al. 2002). Diese Taxonomie ordnet den einzelnen Sprechakttypen sprachliche Muster zu.

[177|178]
Abbildung 2
Abbildung 2: Distribution von Sprachhandlungstypen in Holocaustleugner-Korpus und Vergleichskorpus
[178|179]

So wird etwa die Sprachhandlung VERMUTUNG AUSDRÜCKEN in der Taxonomie eine Unterkategorie der Kategorie AUSDRUCK KOGNITIVER EINSTELLUNGEN, die wiederum der Kategorie INFORMATIONSAUSTAUSCH subsummiert ist. VERMUTUNG AUSDRÜCKEN werden sprachliche Muster wie ich glaube, ich vermute, vermutlich, vielleicht, ist es bestimmt, sind bestimmt, möglicherweise, es ist vorstellbar, vorstellbar ist, kann sich vorstellen, könnte sein zugeordnet. Insgesamt hat die Kategorie INFORMATIONSAUSTAUSCH 46 Unterkategorien, die jeweils mit zwischen 10 und 30 sprachlichen Muster realisiert werden können. Diese sprachlichen Muster wurden für die vorliegende Analyse in ein maschinell verarbeitbares Format gebracht. Abbildung 2 zeigt das Ergebnis der Auszählung der sprachlichen Muster in beiden Korpora geordnet nach der Frequenz der jeweiligen Kategorien.

Was zunächst ins Auge springt, ist die Tatsache, dass im Holocaustleugner-Korpus in fast allen Kategorien sprachliche Muster, die einen Austausch von Information indizieren, häufiger auftreten als im Vergleichskorpus. Die Muster aller abgebildeten 33 Kategorien finden sich im Holocaustleugner-Korpus 41,6 mal je 10.000 Wörter, im wissenschaftlichen Vergleichskorpus nur 24,3 mal. Dass das Sprechen von Eventuellem in beiden Korpora am häufigsten vorkommt, verdankt sich den zahlreichen Konditionalen. Interessant ist, dass die faktual orientierten sprachlichen Muster des IDENTIFIZIERENS und BENENNES (bspw.: „Das ist eine offenkundig falsche Argumentation.“ „Das ist eine unbestreitbare Tatsache.“) zwar im Wissenschaftskorpus noch immer seltener vorkommen als im Holocaustleugner-Korpus, im Verhältnis zu den anderen Kategorien im Vergleichskorpus aber etwas häufiger. Dagegen kommen Muster, die die Sprachhandlung GLAUBEN AUSDRÜCKEN (bspw. „Aller Wahrscheinlichkeit nach bewegten sich die Verluste der polnischen Juden im deutschen Machtbereich in der Größenordnung von einigen hunderttausend .“) indizieren, im Holocaustleugner-Korpus fast doppelt so häufig vor wie im Vergleichskorpus.

Allerdings muss festgehalten werden, dass die Korpora in sich keineswegs einheitlich sind, sondern die Distribution der Muster teils erheblich streut (Abbildung 3 und 4). So weisen die 2002 anonym erschienene „Einleitung in den Historischen Revisionismus“ und die Texte von Rudolf bzw. Gauss im Holocaustleugner-Korpus beinahe durchweg höhere Werte auf; im Vergleichskorpus sind es die Texte von Goldhagen (2012) und Rees (2009), bei denen es sich jeweils um Übersetzungen aus dem Englischen handelt.

[179|180]
Abbildung 3
Abbildung 4
Abbildung 3 und Abbildung 4: Streuung der Sprachhandlungsmuster im Holocaustleugner-Korpus (oben) und im Vergleichskorpus (unten)

So grob und lückenhaft diese Analyse auch ist, so deutet sie doch eine Tendenz zu signifikant unterschiedlichen epistemologischen Positionierungen an: Der Diskurs der Holocaustleugnung macht den Prozess der Wissenskonstruktion häufiger explizit und thematisiert häufiger unsicheres Wissen. Der wissenschaftliche Diskurs dagegen verzichtet insgesamt eher auf die explizite Markierung von epistemischer Modalität und Evidentialität, auch wenn in ihm deklarative Sprechhandlungen im Verhältnis etwas frequenter sind. Im wissenschaftlichen Diskurs werden Faktualität und Evidenz offenbar auch auf implizite Weise kontextualisiert und nicht nur durch die sprachlichen Muster des Informationsaustauschs.

 

[180|181]
7.1 Modalverben in vermutender und behauptenden Bedeutung

Blicken wir auf eine weitere zentrale Kategorie für die Analyse von epistemischer Modalität und Evidentialität: den nicht-deontischen Gebrauch von Modalverben.

Die Modalverben sollen und wollen mit der Bedeutung einer fremden Behauptung sind sprachliche Mittel zur Markierung evidentieller Bedeutungsaspekte. Betrachten wir folgende Satz aus dem Holocaustleugner-Korpus: „Wir zitieren nun aus den Aussagen der drei wichtigsten Augenzeugen, welche den angeblichen Vergasungen in Auschwitz beigewohnt haben wollen.“ Durch die Verwendung des Modalverbs bringt der Satz zum Ausdruck, dass sein Autor die Zeugenschaft der drei Personen als eine Behauptung ansieht und womöglich den Wahrheitsgehalt der Aussage in Frage stellt. Das Modalverb wollen verweist darauf, dass die Behauptung von der Person selbst stammt, wohingegen mit sollen eine fremde Behauptung über eine Person codiert wird: „Die Massenvergasungen im Konzentrationslager Treblinka, in dem Iwan der Schreckliche gewirkt haben soll, sollen mit Abgasen aus den Motoren sowjetischer Beutepanzer erfolgt sein.“ Da der Gegenstand der vorliegenden Untersuchung Aussagen über die Vergangenheit sind, beschränkte sich die Korpusanalyse auf Modalverben mit der Bedeutung einer fremden Behauptung in einem der Vergangenheitstempora. Tabelle 4 zeigt jene Muster, mit denen innerhalb Sätzen nach dem Vorkommen entsprechender Formen gesucht wurde und für die sich in mindestens einem der Korpora Treffer fanden. Sämtliche Treffer wurden daraufhin überprüft, ob es sich bei ihnen um Codierungen von Behauptungen handelte.

[181|182]
Muster Korpus Holocaustleugner Korpus Wissenschaft
abs. Freq. je 100.000 Wörter abs. Freq. je 100.000 Wörter
soll .*?gewesen sein 11 0,701354826 2 0,250368668
sollen .*?gewesen sein 4 0,255038119 0 0
gewesen sein .*?sollen 19 1,211431064 1 0,125184334
gewesen sein .*?soll[\., ] 16 1,020152475 0 0
haben .*?sollen 64 4,080609898 1 0,125184334
haben .*?soll[\., ] 109 6,949788733 4 0,500737336
sollen .*?haben 14 0,892633415 2 0,250368668
soll .*?haben 34 2,167824008 7 0,876290338
soll.*?worden sein 26 1,657747771 1 0,125184334
worden sein soll[\., ] 30 1,91278589 0 0
worden sein sollen 97 6,184674377 0 0
will .*?gewesen sein 1 0,06375953 0 0
gewesen sein .*?will[\., ] 1 0,06375953 0 0
haben .*?wollen 9 0,573835767 0 0
haben .*?will[\., ] 41 2,614140716 0 0
wollen .*?haben 2 0,127519059 0 0
will .*?haben 9 0,573835767 0 0
will.*?worden sein 3 0,191278589 0 0
worden sein will[\., ] 1 0,06375953 0 0
Gesamt 491 31,30592906 18 2,253318011
Tabelle 4: Distribution der Modalverben sollen und wollen mit der Bedeutung einer fremden Behauptung in Vergangenheitstempora [181-182]

Die Tabelle zeigt, dass in den Texten der Holocaustleugner die Modalverben sollen und wollen mit der Bedeutung einer fremden Behauptung rund 14 mal häufiger vorkommen als in den wissenschaftlichen Texten.

Ähnlich verhält es sich mit den Modalverben in subjektiver, vermutender Bedeutung. Hier indiziert müssen (sicherlich, gewiss) den höchsten Grad der vermuteten Faktualität („Welch schrecklicher Überlebenskampf muss hier stattgefunden haben!“), während dürfen (wahrscheinlich, „Der Rest dürfte sich in der Sowjetunion verstreut haben.“) und mögen (einräumende Vermutung, „Nun mag es tatsächlich sein, daß in vielen Fällen Begriffe wie Sonderbehandlung nachweislich zur Umschreibung für eine Exekution standen.“) graduelle Abstufungen bezeichnen.

Am seltensten ist in beiden Korpora die Verwendung von muss in subjektiver Bedeutung. Im Holocaustleugner-Korpus finden sich 15 Belege (dies entspricht rund einem Beleg je 100.000 Wörter), im Wissenschaftskorpus sind es 14 Treffer, was einer relativen Frequenz von 1,7 Belegen je 100.000 Wörter entspricht. Im Wissenschaftskorpus wird also häufiger mit Gewissheit vermutet als im Holocaustleugner-Korpus, allerdings ist auch hier die Frequenz so gering, dass dem Befund kein Gewicht für die Gesamtdeutung zugesprochen werden kann.

Die subjektiven Verwendungsweisen von mag/mögen und dürfte/dürften bringen im Vergleich zur subjektiven Verwendung von muss graduell eine geringere Gewissheit der Faktualität einer Proposition zum Ausdruck. Sie sind insgesamt frequenter und finden sich häufiger im Holocaustleugner-Korpus. Subjektive Verwendungen von dürfte/dürften werden hier 234 mal verwendet, was einer relativen Frequenz von 15 je 100.000 Wörter entspricht, während die relative Frequenz im Wissenschaftskorpus lediglich [182|183] vier je 100.000 Wörter beträgt (31 Belege). Im Fall von mag/mögen liegt die relative Frequenz im Holocaustleugner-Korpus bei rund 23 je 100.000 Wörter (357 Belege), im Vergleichskorpus bei etwas mehr als der Hälfte, nämlich bei 12,5 (100 Belege).

Die Analyse der Modalverben weist also eine ähnliche Tendenz auf wie die globale Analyse sprachlicher Mittel des Informationsaustauschs: Epistemische Modalität und Evidentialität werden im Holocaustleugner-Korpus insgesamt deutlich häufiger explizit gemacht als im Vergleichskorpus. Die Indizierung geringerer Faktualitätsgrade scheint auf den ersten Blick ein signifikantes Merkmal des Holocaustleugner-Korpus.

Eine kontextsensitive Analyse zeigt jedoch, dass sich viele Belege zum einen auf den Grad der Überzeugung, den die Autoren bei ihren Leserinnen und Lesern zu evozieren erhoffen (es dürfte nun klar sein), beziehen; zum anderen wird besonders dürfte dazu benutzt, eine herrschende Lehrmeinung korrigierende, aus den zusammengetragenen vermeintlichen Fakten spekulativ abgeleitete Proposition zu markieren („Die wirkliche Zahl dürfte wohl bei 250'000 liegen.“, „Die tatsächliche Zahl der Gestorbenen dürfte wesentlich höher liegen.“, „Die tatsächliche Todeszahl dürfte jedoch etwas höher sein.“, „Die genaue Todeszahl ist völlig unbekannt, sie dürfte jedoch höchstens 5.000-6.000 betragen.“).

 

7.2 Kommunikationsverben

Interessante Ergebnisse zeigen sich auch bei einem Vergleich des Gebrauchs von Kommunikationsverben unter der Perspektive der epistemologischen Positionierung. Nimmt man alle in Harras/Winkler/Proost (2004) verzeichneten Kommunikationsverben mitsamt ihren (freilich nicht immer eindeutigen) Zuweisungen zu Sprechakttypen und untersucht deren Vorkommen in beiden Korpora, dann zeigen sich interessante Unterschiede (Abbildung 5). Auffällig ist, dass in den Texten der Holocaustleugner mehr Repräsentativa vorkommen als in den wissenschaftlichen Texten, in denen wiederum Direktiva frequenter sind.

Die höhere Frequenz an Direktiva im Wissenschaftskorpus hat ihre Ursache darin, dass hier häufiger über Sprechhandlungen berichtet wird. Jene Direktiva, die mit der höchsten statistischen Signifikanz im Wissenschaftskorpus auftreten, das zeigt die Kontextanalyse, dienen in den Wissenschaftstexten der Darstellung von Sprachhandlungen historischer Akteure und verweisen nicht auf inten dierte Sprachhandlungen der Autoren: untersagen, ankündigen, verlangen, gutheißen, einweisen, anordnen, billigen, [183|184] genehmigen, gewähren, verfügen, beschwören, anweisen, ermächtigen, mobilisieren, beibringen, befehlen, aufrufen.

Abbildung 5
Abbildung 5: Distribution unterschiedlicher Typen von Kommunikationsverben; Frequenz je 10.000 Wörter

Relevanter für die Analyse epistemologischer Positionierung sind Repräsentativa, die unterschiedliche Grade der Überzeugung des Sprechers, dass eine Proposition wahr oder falsch ist, zum Ausdruck bringen. Tabelle 5 zeigt jene Repräsentativa, die in beiden Korpora signifikant unterschiedlich distribuiert sind. Die meisten Repräsentativa mit der höchsten Signifikanz markieren den Wahrheitsanspruch der Proposition entweder als hochgradig strittig und begründungsbedürftig (behaupten, widerlegen, widersprechen, bestreiten) oder als einräumend und daher stark faktual (zugeben, gestehen, bekennen, bejahen). Daneben finden sich auch signifikante häufiger auftretende Verben mit quotativer Bedeutungsdimension (feststellen, zutragen, berichten). Einige Repräsentative werden ausschließlich im Korpus mit Texten, die den Holocaust leugnen, verwendet, darunter bezweifeln, anzweifeln, abstreiten, zugestehen, suggerieren, aufdecken, widerrufen, verneinen, prophezeien, dementieren. Auch sie markieren einen hohen epistemisch-modalen Grad der Zustimmung zu bzw. der Ablehnung einer Proposition.

[184|185]
Lemma Faktor Frequenz Holocaust­leugner Relative Freq. Holocaust­leugner Frequenz Wissen­schaft Relative Freq. Wissen­schaft chi2 Signifikanz­niveau
behaupten 2,75 795 5,19 147 1,88 138,61 0,0000
widerlegen 9,29 292 1,90 16 0,21 112,26 0,0000
feststellen 2,82 365 2,38 66 0,85 65,46 0,0000
angeben 3,29 207 1,35 32 0,41 44,27 0,0000
widersprechen 3,58 183 1,19 26 0,33 42,41 0,0000
bestreiten 4,12 162 1,06 20 0,26 42,14 0,0000
bezweifeln NA 51 0,33 0 0 25,97 0,0000
zugeben 2,71 149 0,97 28 0,36 25,42 0,0000
darlegen 3,80 97 0,63 13 0,17 23,64 0,0000
anzweifeln NA 46 0,30 0 0 23,42 0,0000
abstreiten NA 42 0,27 0 0 21,39 0,0000
zugestehen NA 39 0,25 0 0 19,86 0,0000
suggerieren NA 35 0,23 0 0 17,82 0,0000
gestehen 3,06 84 0,55 14 0,18 16,59 0,0000
bekennen 1,72 203 1,32 60 0,77 14,04 0,0000
zutragen NA 24 0,16 0 0,00 12,22 0,0002
berichten 1,25 718 4,68 292 3,74 10,53 0,0005
argumentieren 2,15 76 0,50 18 0,23 8,95 0,0014
beugen NA 17 0,11 0 0 8,66 0,0017
aufdecken NA 17 0,11 0 0 8,66 0,0017
schildern 1,62 134 0,87 42 0,54 7,68 0,0030
beschreiben 1,42 228 1,49 82 1,05 7,36 0,0036
widerrufen NA 14 0,09 0 0 7,13 0,0042
benachrichtigen NA 14 0,09 0 0 7,13 0,0042
bejahen NA 14 0,09 0 0 7,13 0,0042
nennen 1,24 427 2,79 175 2,24 5,87 0,0089
verneinen NA 11 0,07 0 0 5,60 0,0104
ausrichten 2,08 49 0,32 12 0,15 5,40 0,0118
prophezeien NA 10 0,07 0 0 5,09 0,0142
dementieren NA 10 0,07 0 0 5,09 0,0142
zustimmen 1,55 64 0,42 21 0,27 3,10 0,0467
vermitteln 0,55 44 0,29 41 0,53 7,99 0,0025
erinnern 0,75 278 1,81 188 2,41 9,10 0,0013
warnen 0,56 56 0,37 51 0,65 9,28 0,0011
verbreiten 0,66 154 1,00 119 1,52 11,85 0,0002
melden 0,47 105 0,68 113 1,45 31,94 0,0000
Tabelle 5: Repräsentativa mit signifikant unterschiedlicher Distribution im Korpus der Holocaustleugner und im Wissenschaftskorpus
[185|186]

Jene Repräsentativa dagegen, die für das Wissenschaftskorpus signifikant sind, namentlich vermitteln, erinnern, warnen, verbreiten und melden, sind zum einen vergleichsweise niederfrequent, zum anderen hinsichtlich ihrer Funktion für eine epistemologische Positionierung von geringer Aussagekraft.

 

7.3 Epistemisch-modale Adjektive, Adverbien und Nomen

Ein ähnliches Bild ergibt sich, wenn man die Distribution epistemisch-modaler Adjektive (und Partizipien), Adverbien und Nomen analysiert. Hierfür wurden ausgehend von Wörtern aus den Wortfeldern Epistemizität (richtig, möglich, falsch, Wahrheit, Wahrscheinlichkeit, Falschheit etc.) und Evidentialität (angeblich, vermeintlich, Beweis, Lüge etc.) Wortlisten anhand von Synonymie-, Hyperonymie- und Kohyponymie-Beziehungen aus GermaNet (Hamp/Feldweg 1997) und Synonymie-Beziehungen aus Open Thesaurus (Free Software Foundation o.J.) und Woxikon (synonyme.woxikon.de) erstellt (s. Anhang). Die Listen umfassen 190 Nomen sowie 314 Adjektive (einschließlich Partizipien) und Adverbien, die jeweils unterschiedliche Grade der Faktualitätszuschreibung und unterschiedliche Sprechereinstellungen zur Quelle der Informationen als semantische Merkmale enthalten.

Auch hier kann zunächst festgehalten werden, dass sich im Korpus der Holocaustleugner deutlich mehr epistemisch-modale Ausdrücke finden als im Wissenschaftskorpus: 18% mehr modal-evidentielle Adjektive und Adverbien (126,7 im Vergleich zu 88,1 je 10.000 Wörter) und sogar 37,3 % mehr modal-evidentielle Nomen (86,1 im Vergleich zu 39,3 je 10.000 Wörter).

Betrachtet man die Distribution von Nomen mit epistemisch-modaler und evidentieller Bedeutungsdimension, so zeigt sich, dass auch hier eine ganze Reihe jener Nomen (in Klammern jeweils die Frequenz im betreffenden Korpus), die einen extremen oder sehr hohen Grad von Faktualität bzw. Unwahrheit codieren, ausschließlich im Korpus der Holocaustleugner zu finden sind, nämlich Fälschung (266), Richtigkeit (118), Unmöglichkeit (115), Unsinn (105), Schwindel (70), Betrug (66), Dogma (56), Manipulation (49), Gewissheit (45), Unterstellung (44), Falschaussage (38), Falschheit (28), Lügengeschichte (14), Heuchelei (11), Wunschvorstellung (10). Auch einige Nomen, die die Perspektivität der Wissensquelle sichtbar machen, werden ausschließlich von Holocaustleugnern verwendet: Spekulation (34), [186|187] Hypothese (31), Auslegung (22), Sichtweise (17), Unsicherheit (15), Deutung (12), Blickwinkel (11).

In gleicher Weise lassen sich jene Nomen gruppieren, die zwar auch im Wissenschaftskorpus vorkommen, aber im Holocaustleugner-Korpus signifikant häufiger sind. Die Perspektivität der Wissensquelle und einen geringeren Grad an Faktualität machen die Nomen These (676), Theorie (149), Meinung (524), Behauptung (649), Auffassung (260) sichtbar, epistemisch-modal eher neutral sind die hochfrequenten Nomen Zeugenaussage (864) und Aussage (1500). Signifikant häufig treten im Holocaustleugner-Korpus zudem Nomen auf, die die Einschätzung eines hohen Wahrheits- bzw. Unwahrheitsgehalts codieren, teilweise auch mit evidentieller Bedeutungsdimension: Lüge (325), Zweifel (374), Wahrheit (786), Wirklichkeit (200), Feststellung (171), Tatsache (806), Kenntnis (231), Erkenntnis (320), Wissen (179), Phantasie (55), Erfindung (54), Unwahrheit (88). Epistemisch-modale Nomen, die im Wissenschaftskorpus signifikant häufig auftreten, sind einerseits deutlich weniger frequent und lassen sich andererseits weniger eindeutig auf einen bestimmten Grad der Zuschreibung von Wahrheit bzw. Falschheit oder auf eine bestimmte Art der Bewertung der Wissensquelle beziehen. Es handelt sich um die Nomen Lehre (128), Anschauung (20), Illusion (33), Bedenken (44), Vorstellung (150), Täuschung (15), Idee (83), Erläuterung (11), Position (69) und Aspekt (96).

[187|188]
  inferentiell quotativ nur epistemisch-modal
ausschließlich im Korpus der Holocaustleugner nachweislich (66), überzeugend (55), ersichtlich (50), nachvollziehbar (46), unwiderlegbar (43), stichhaltig (28), fundiert (24), schlagend (23), unzweifelhaft (22), unumstößlich (22), schätzungsweise (16), vermutet (15), erwiesen (15), bewiesen (13), logischerweise (12), ausgeschlossen (12), einleuchtend (11) bezeugt (103), glaubhaft (82), glaubwürdig (67), unglaubwürdig (66), zuverlässig (65), unbestritten (57), fragwürdig (56), authentisch (53), unglaubhaft (36), verlässlich (31), strittig (31), nachgewiesen (30), ungeklärt (27), belegt (25), augenscheinlich (22), garantiert (16), beweiskräftig (15), mutmaßlich (11), beweisbar (11) unwahrscheinlich (45), höchstwahrscheinlich (20), ungenau (18), ungewiss (14), zweifelsfrei (13), zweifelsohne (12), wahrhaft (11)
signifikant für Korpus der Holocaustleugner logisch (90), offenbar (316), anscheinend (77), verständlich (69), folglich (87) angeblich (1392), vermeintlich (336), bekanntlich (71), zweifelhaft (76), offensichtlich (323), umstritten (51), offenkundig (220), bekannt (450) womöglich (108), wahrscheinlich (379), annähernd (150), grob (119), ungefähr (238), eventuell (87), richtig (591), wahr (381), sicherlich (121), ziemlich (114), exakt (73), wirklich (436), hypothetisch (38), tatsächlich (869), sicher (344), möglich (752), gewiss (399)
signifikant für Wissenschafts-korpus unvorstellbar (15), vorstellbar (10), geschlossen (35) vermutlich (76) unklar (27), faktisch (30), vage (16)
Tabelle 6: Übersicht über Adjektive, Adverbien und Partizipien mit epistemisch-modaler und/oder evidentieller Bedeutung [187-188]

Die Analyse der anderen Wortarten ergibt ein ähnliches Bild. Tabelle 6 gibt einen Überblick über die für die jeweiligen Korpora signifikanten Adjektive, Adverbien und Partizipien. Auch wenn die Einteilung in inferentielle, quotative und bloß epistemisch-modale Lexeme im Einzelfall strittig ist (und sich teils nur aus intensivem Studium der Verwendungskontexte eine dominante Lesart erschließen ließ), zeigt die Tabelle doch, dass ein erheblicher Teil jener Lexeme, die entweder ausschließlich im Holocaustleugner-Korpus vorkommen oder dort signifikant häufiger sind, quotativ interpretiert werden können. Insbesondere die Adverbien angeblich und vermeintlich, die vier bzw. drei mal häufiger als im Vergleichskorpus vorkommen (hinsichtlich ihrer relativen Häufigkeit), verweisen auf eine epistemologische Positionierung, die Skepsis gegenüber allgemein bekanntem Wissen zu markieren bemüht ist. Die hohe Zahl von Lexemen, die einen hohen Grad der Gewissheit bzw. des Zweifels hinsichtlich einer Proposition oder ihrer Quelle zum Ausdruck bringen (nachweislich, bezeugt, glaubhaft, unwiderlegbar, stichhaltig), reiht sich in vorher referierte Befunde ein.

 

[188|189]
7.4 Quotative Evidentialität (indirekte Rede, quotative Präpositionen)

Untersucht man das Vorkommen von quotativem Konjunktiv und quotativen Präpositionen als Markierungen von Evidentialität, dann zeigt sich, dass sich auch diese sprachlichen Mittel im Holocaustleugner-Korpus häufiger finden als im Vergleichskorpus. Wird im Wissenschaftskorpus in rund 2% aller Gliedsätze der Konjunktiv I verwendet, so sind es im Holocaustleugner-Korpus 2,5%. Deutlicher noch sind die Unterschiede im Gebrauch der quotativen Präpositionen laut, gemäß und zufolge. Im Holocaustleugner-Korpus finden sich 24,4 in 100.000 Wörtern (382 Belege), im Vergleichskorpus nur 9,3 (74 Belege). Diese Zahlen können so gedeutet werden, dass Holocaustleugner häufiger explizite textuelle Referenzen auf die Quellen markieren als die Autorinnen und Autoren des Vergleichskorpus.

 

7.5 Epistemisch-modale und evidentielle Rahmung von Inhaltssätzen

Eine besondere Form der Codierung epistemischer Modalität und Evidentialität ist der Ausdruck der Sprechereinstellung in einem Matrixsatz, dessen Komplementsatz die bewertete Proposition enthält. Im Folgenden soll untersucht werden, ob es Unterschiede in der Distribution von Matrixsatzprädikaten bei Inhaltssätzen mit dass zwischen den beiden Korpora gibt. Insgesamt sind Inhaltssätze mit dass im Holocaustleugner-Korpus mit einer relativen Frequenz von 68,8 je 10.000 Wörter (10791 Belege) ein häufigeres Phänomen als im Vergleichskorpus (relative Frequenz: 44,4; 3544 Belege). Dies ist ein weiterer Beleg dafür, dass im wissenschaftlichen Diskurs über den Holocaust Evidentialität und epistemische Modalität insgesamt seltener markiert werden.

Tabelle 7 gibt einen Überblick über die frequentesten 50 Wortformen der Verben im Matrixsatz. Sie decken jeweils rund ein Viertel aller Belegstellen ab. Zunächst fällt ins Auge, dass im Wissenschaftskorpus 20 der 50 Formen eine Vergangenheitsform aufweisen, während es im Holocaustleugner-Korpus nur fünf sind. Daran zeigt sich bereits ein wichtiger Unterschied der beiden Korpora: Im Wissenschaftskorpus werden offenbar häufiger Propositionen, die auf die Vergangenheit Bezug nehmen, in dass-Sätzen behandelt als im Holocaustleugner-Korpus.

Auffällig ist zudem, dass in beiden Korpora Formen von sein + Nomen die häufigsten Realisierungsmuster sind. Eine detaillierte Analyse zeigt [189|190] aber auch hier, dass dieses Formulierungsmuster von Holocaustleugnern häufig dazu benutzt wird, einen hohen Grad an Sicherheit bezüglich der im Komplementsatz geäußerten Proposition zu codieren: Im Holocaustleugner-Korpus ist nämlich 61 Mal Tatsache das Subjekt oder Prädikatsnomen (Tatsache ist, … / Es ist eine Tatsache, …) und sechs Mal Wahrheit im Gegensatz zu drei Belegen für Tatsache und einem Beleg für Wahrheit im Wissenschaftskorpus.

Wissenschaft   Holocaustleugnung
Wortform absolute Frequenz Anteil an allen Verben (%) Frequenz je 10000 Wörter   Wortform absolute Frequenz Anteil an allen Verben (%) Frequenz je 10000 Wörter
war + Nomen 42 1,19 0,53   ist + Nomen 310 2,87 1,98
ist + Nomen 37 1,04 0,46   beweist 88 0,82 0,56
sagen 35 0,99 0,44   wissen 86 0,80 0,55
wußte 32 0,90 0,40   zeigt 80 0,74 0,51
wußten 26 0,73 0,33   weiß 76 0,70 0,48
bedeutete 25 0,71 0,31   war + Nomen 73 0,68 0,47
heißt 24 0,68 0,30   sagen 70 0,65 0,45
glauben 22 0,62 0,28   behauptet 67 0,62 0,43
wissen 22 0,62 0,28   beweisen 63 0,58 0,40
mitteilte 21 0,59 0,26   bedeutet 61 0,57 0,39
erklärte 21 0,59 0,26   ausgehen 60 0,56 0,38
zeigt 20 0,56 0,25   gibt 58 0,54 0,37
weiß 20 0,56 0,25   ergibt 57 0,53 0,36
war klar 20 0,56 0,25   erklärte 56 0,52 0,36
erklärt 19 0,54 0,24   heißt 56 0,52 0,36
machte 19 0,54 0,24   können 56 0,52 0,36
bedeutet 19 0,54 0,24   kann 55 0,51 0,35
bestand 17 0,48 0,21   zeigen 53 0,49 0,34
besteht 16 0,45 0,20   festgestellt 50 0,46 0,32
sorgen 16 0,45 0,20   liegt 50 0,46 0,32
gibt 15 0,42 0,19   erklärt 49 0,45 0,31
sagte 15 0,42 0,19   glauben 48 0,44 0,31
zeigen 15 0,42 0,19   kommt 46 0,43 0,29
wussten 15 0,42 0,19   glaube 46 0,43 0,29
berichtet 14 0,40 0,18   feststellte 45 0,42 0,29
können 14 0,40 0,18   berichtet 45 0,42 0,29
zeigte 14 0,40 0,18   ausgeht 44 0,41 0,28
hatte 13 0,37 0,16   erwähnt 44 0,41 0,28
kann 13 0,37 0,16   erkennt 43 0,40 0,27
wusste 13 0,37 0,16   sein 43 0,40 0,27
sagt 12 0,34 0,15   hinweisen 41 0,38 0,26
annehmen 12 0,34 0,15   wusste 38 0,35 0,24
feststand 12 0,34 0,15   besteht 37 0,34 0,24
erfuhr 12 0,34 0,15   zugibt 37 0,34 0,24
sah 12 0,34 0,15   feststellen 37 0,34 0,24
verhindern 12 0,34 0,15   kam 37 0,34 0,24
behauptet 11 0,31 0,14   erklären 35 0,32 0,22
sorgte 11 0,31 0,14   ist möglich 35 0,32 0,22
gehört 11 0,31 0,14   behaupten 35 0,32 0,22
verlangt 11 0,31 0,14   hervorgeht 33 0,31 0,21
feststellte 11 0,31 0,14   erkennen 33 0,31 0,21
herausstellte 11 0,31 0,14   steht 32 0,30 0,20
konnte 11 0,31 0,14   annehmen 32 0,30 0,20
glaubte 11 0,31 0,14   müssen 32 0,30 0,20
haben 10 0,28 0,13   rechnen 32 0,30 0,20
kam 10 0,28 0,13   entnehmen 31 0,29 0,20
erkennen 10 0,28 0,13   meint 31 0,29 0,20
waren 10 0,28 0,13   hingewiesen 30 0,28 0,19
spricht 10 0,28 0,13   feststellt 29 0,27 0,18
wurde klar 10 0,28 0,13   hinweist 29 0,27 0,18
Tabelle 7: Frequenz der 50 häufigsten Wortformen der Matrixsatzverben. [190-191]

Die Korpora unterscheiden sich auch hinsichtlich der Art der codierten Evidentialität. Während sich im Wissenschaftskorpus unter den 50 häufigsten Wortformen der Matrixsatzverben 19 befinden, die man als dominant quotativ interpretieren kann, sind es im Holocaustleugner-Korpus nur 15. Umgekehrt finden sich hier unter den 50 häufigsten Verbformen deutlich mehr, die inferentielle Evidentialität codieren (17), als im Wissenschaftskorpus (9).

 

[191|192]
8. Fazit

Die korpuspragmatischen Analysen, mit denen der überwiegende Teil der Möglichkeiten zur Codierung von epistemischer Modalität und Evidentialität im Deutschen in den Blick genommen wurde, haben folgende Merkmale epistemologischer Positionierung als typisch für die Texte von Holocaustleugnern ergeben:

Holocaustleugner thematisieren insgesamt deutlich häufiger den Prozess der Wissenskonstruktion, als dies im akademischen Diskurs üblich ist.

Holocaustleugner codieren entsprechend auch häufiger epistemisch-modale Positionen als die Angehörigen einer wissenschaftlichen Diskursdomäne. Sie bringen auch signifikant häufiger einen extrem hohen Grad an Sicherheit bzw. Unsicherheit gegenüber der Gültigkeit eines propositionalen Gehalts zum Ausdruck.

Häufiger als im akademischen Diskurs markieren sie auch quotative Evidentialität, was gemeinhin mit einem höheren Objektivitätsgrad (Mushin 2001, S. 80) in Verbindung gebracht wird, denn es verhindert, dass die vorgebrachten Propositionen nur dem Autor zugeschrieben werden (Haßler 2015, S. 205).

Auch schwächere Grade der Faktualität und subjektiv-inferentieller Evidentialität werden von Holocaustleugnern häufiger codiert als in wissenschaftlichen Texten. Das dominante sprachliche Mittel, das dabei zum Einsatz kommt, sind Modalverben mit Behauptungs- und Vermutungsbedeutung. Erstere dienen der Infragestellung von Zeugenschaft und vermeintlich hegemonialer Wissenselemente; letztere werden vor allem dann verwendet, wenn eine vermeintlich widerlegte Position der herrschenden Lehrmeinung durch ein der Wirklichkeit vermeintlich näheres, aber eben auch nur angenähertes Faktum ersetzt wird; denn nicht die Konstruktion eines exakten Wissens, sondern die Destruktion des hegemonialen Wissens ist das zentrale Anliegen der Holocaustleugner.

Ob diese Merkmale der epistemologischen Positionierung typisch für Verschwörungstheorien sind, kann im Rahmen dieser exemplarischen Studie leider nicht beantwortet werden.

Gleichwohl lassen sich die Ergebnisse problemlos auf definitorische Merkmale von Verschwörungstheorien beziehen: So verweist die häufige Verwendung von Modalverben in Behauptungsbedeutung auf Strategien zur Delegitimation von Zeugen und etablierten Wissensquellen. Dem [192|193] korrespondiert der häufige Ausdruck extrem hoher Grade an Sicherheit bzw. Unsicherheit gegenüber der Gültigkeit eines propositionalen Gehalts. Mit Modalverben in Vermutungsbedeutung wird alternatives Wissen konstruiert, allerdings – und dies ist möglicherweise eine Besonderheit der strafbewährten Holocaustleugnung – nicht im Gestus der Gewissheit, sondern in der Form vorsichtiger Mutmaßung (dürfte/müsste). Die geradezu obsessive Thematisierung von Faktualität und Evidentialität, insbesondere auch die häufige Markierung quotativer Evidentialität, zeigen das Bemühen, Prozesse der Wissenskonstruktion für die Leserinnen und Leser nachvollziehbar zu machen, wie dies auch in wissenschaftlichen Texten üblich ist. Darin, dass die Verschwörungstheoretiker und -theoretikerinnen dabei allerdings weit über das im wissenschaftlichen Diskurs übliche Maß hinausschießen, in der vermeintlichen Übererfüllung von Standards also, zeigt sich die Marginalisiertheit ihrer Position. Die in Verschwörungstheorien signifikant häufiger verwendeten Ausdrücke zur Codierung eines extrem hohen Grades an Sicherheit bzw. Unsicherheit gegenüber der Gültigkeit eines propositionalen Gehalts zeigen zudem, dass kühles Abwägen und Relativieren des Gültigkeitsbereich eigener Aussagen, wie sie im wissenschaftlichen Diskurs üblich sind, nicht Bestandteil von verschwörungstheoretischen Texten sind. Sie verweisen vielmehr auf ein emphatisches Verständnis von Wahrheit, das sich mit dem gegenwärtigen Verständnis von Geschichtswissenschaft, in dem die erzählte Geschichte immer eine unter möglichen anderen ist, nicht in Einklang bringen lässt.

Angesichts der Tatsache, dass das Wissenschaftskorpus Texte enthielt, in denen provokante Thesen formuliert und altes Wissen teils vehement kritisiert wurde, zeigen die Unterschiede hinsichtlich der Rolle von Evidentialität und epistemischer Modalität in beiden Korpora, dass die Konstruktion „neuen“ Wissens nicht auf die epistemologische Positionierung angewiesen ist, die im Rahmen von Verschwörungstheorien zur Anwendung kommt.

 

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Fußnoten

 

Anhang
1. Liste epistemisch-modaler und evidentieller Adjektive, Adverbien und Partizipien

vielleicht, wahrscheinlich, wohl, möglicherweise, eventuell, etwa, vermutlich, sicher, ungefähr, annähernd, überschlägig, schätzungsweise, rund, höchstwahrscheinlich, annäherungsweise, circa, zirka, gewiss, womöglich, potenziell, nicht ausgeschlossen, ausgeschlossen, mutmaßlich, grob, denkbar, anscheinend, geschätzt, approximativ, mehr oder weniger, in etwa, gefühlt, über den Daumen, um die, um den Dreh, so um die, so gegen, so etwa, so circa, plus/minus, näherungsweise, grob gesagt, ca., Pi mal Daumen, in dem Dreh, offenbar, gegebenenfalls, sicherlich, unter Umständen, möglich, potentiell, gewiß, ungewiss, jedenfalls, etwaig, zweifellos, vermeintlich, ungewiß, scheinbar, fast, allenfalls, unumstößlich, unbestimmt, offen, freilich, definitiv, vorhersagbar, notfalls, es ist möglich, es ist denkbar, voraussichtlich, unbedingt, pauschal, klar, den Umständen entsprechend, bestenfalls, wirklich, wenigstens, vorhersehbar, unwahrscheinlich, unbewiesen, je nachdem, im Fall der Fälle, durchaus, bewiesen, beinahe, absehbar, u.U., praktisch, immerhin, ggf., evtl., eventualiter, endgültig, beweisend, bestimmt, wie es scheint, eigentlich, auf jeden Fall, allem Anschein nach, abgerundet, äußerstenfalls, wie man hört, wie gesagt wird, wie behauptet, vorstellbar, selbstverständlich, offensichtlich, nahezu, höchstens, dem Vernehmen nach, angeblich, offenkundig, möglichenfalls, glaubhaft, fraglos, aushilfsweise, augenfällig, wahrlich, einigermaßen, augenscheinlich, absolut, zuverlässig, unweigerlich, ohne Frage, glaubwürdig, aussehen nach, alle Mal, wie man sagt, scheinen zu, sagen wir, nicht ganz, mit Sicherheit, es heißt, belegt, angenommen werden, spricht für, alles spricht für, zweifelsohne, zu vermuten stehen, tatsächlich, präsumtiv, nicht unmöglich, eindeutig, echt, anzunehmen sein, als wahrscheinlich gelten, als wahrscheinlich geltend, aller Voraussicht nach, schlagend, real, knapp, gerade noch, fürwahr, erwartungsgemäß, diskutabel, deutlich, beinah, wahrhaftig, vertrauenswürdig, ungeklärt, selbstredend, ohne Zweifel, naheliegend, klarer Fall, genau, erwiesen, dies sei zugestanden, dessen ungeachtet, authentisch, angenähert, wie man vorgibt, wie man behauptet, unzweifelhaft, unzweideutig, unter allen Umständen, unklar, richtig, partout, nachgerade, logisch, in jeder Hinsicht, in der Tat, im Bereich des Möglichen, gültig, einleuchtend, ehrlich, auf alle Fälle, Vertrauen erweckend, ziemlich, wahr, viabel, ungenau, triftig, todsicher, so gut wie sicher, so gut wie, schlechthin, ohne weiteres, mit Bestimmtheit, in jedem Fall, hypothetisch, hundertpro, ganz gewiss, ganz bestimmt, evident, erkennbar, bombensicher, beglaubigt, außer Zweifel, keine Frage, ohne Frage, verbürgt, untrüglich, unsicher, ungesichert, undurchsichtig, unanfechtbar, stichhaltig, gesichert, fraglich, faktisch, ersichtlich, zwingend, zweifelsfrei, zweifelhaft, verständlich, verlässlich, vage, unwiderlegbar, unvorstellbar, unverbürgt, unumstritten, unstrittig, unleugbar, ungelogen, unfehlbar, unbestreitbar, selbstverfreilich, geklärt, fragwürdig, einwandfrei, bekannt, überzeugend, wie es aussieht, vermutet, undeutlich, unbestritten, unabänderlich, umstritten, plausibel, nachgewiesen, mag sein, logischerweise, könnte sein, kann vorkommen, kann ja sein, hundertprozentig, haltlos, gut möglich, geschlossen, garantiert, fiktiv, exakt, erklärlich, ergo, wahrhaft, vag, unübersehbar, unwiderleglich, unstreitig, ungelöst, undurchschaubar, unbezweifelbar, strittig, spekulativ, nach allem Anschein, manifest, kalkulierbar, geltend, dokumentiert, dem äußeren Anschein nach zu urteilen, dem Augenschein nach, begründet, bedenkenlos, aus erster Hand, wahrnehmbar, vorgeschoben, vorgeblich, vorauszusehen, voraussehbar, voraussagbar, vorausberechenbar, verläßlich, unglaubwürdig, unglaubhaft, unbestätigt, nicht abgesichert, nachweislich, nachvollziehbar, letztgültig, irrtümlich angenommen, inkorrekt, in Betracht kommen, fälschlich, fundiert, folglich, fadenscheinig, de facto, bezeugt, beweiskräftig, bestreitbar, bekanntlich, bekanntermaßen, beweisbar

 

2. Liste epistemisch-modaler und evidentieller Nomen

Akkuratheit, Ammenmärchen, Annahme, Anschauung, Anschein, Ansicht, Argument, Aspekt, Assoziation, Auffassung, Ausflucht, Auslegung, Aussage, Bedenken, Befürchtung, Behauptung, Betrachtungsweise, Betrug, Bewertung, Blendwerk, Blickwinkel, Bluff, Chimäre, Deckmantel, Deutung, Dogma, Doktrin, Entlarvung, Entstellung, Erfindung, Erkenntnis, Erklärung, Erläuterung, Eventualität, Exaktheit, Falschaussage, Falschheit, Fehlerfreiheit, Fehlerlosigkeit, Feststellung, Fiktion, Flunkerei, Folgerung, Fraglichkeit, Fälschung, Gaunerei, Gaunerstreich, Geflunker, Gegenargument, Gegenaussage, Gegenbehauptung, Gegenmeinung, Gegenstimme, Genauigkeit, Gewissheit, Gewißheit, Glaube, Glauben, Halluzination, Heimlichkeit, Heuchelei, Hintergehung, Hirngespinst, Hypothese, Idee, Illusion, Inkonsistenz, Irreführung, Jägerlatein, Kabis, Kappes, Kenntnis, Klarheit, Komplexität, Kompliziertheit, Konsistenz, Korrektheit, Lehre, Lehrgebäude, Lehrmeinung, Luftschloss, Luftschloß, Lüge, Lügengeschichte, Lügenmärchen, Lügerei, Machenschaft, Manipulation, Maskerade, Meinung, Modell, Mogelei, Mutmaßung, Möglichkeit, Münchhausiade, Nichtbekanntheit, Nichtexistenz, Notlüge, Pfusch, Phantasie, Phantasmagorie, Position, Probabilität, Präsumption, Präsumtion, Präzision, Quatsch, Richtigkeit, Räubergeschichte, Räuberpistole, Schiebung, Schimäre, Schluss, Schluß, Schutzbehauptung, Schwindel, Schwindelei, Seemannsgarn, Sicherheit, Sicht der Dinge, Sichtweise, Spekulation, Stellungnahme, Stichhaltigkeit, Stochern im Nebel, Supposition, Synthese, Tatsache, Tatsächlichkeit, Theorem, Theorie, These, Trug, Täuschung, Unanfechtbarkeit, Unangreifbarkeit, Unantastbarkeit, Unaufrichtigkeit, Unbestimmtheit, Unehrlichkeit, Unfehlbarkeit, Ungenauigkeit, Ungesichertheit, Ungewisse, Ungewissheit, Ungewißheit, Ungültigkeit, Unklarheit, Unmöglichkeit, Unredlichkeit, Unregelmäßigkeit, Unsachlichkeit, Unsicherheit, Unsinn, Unterstellung, Unverständlichkeit, Unwahres, Unwahrhaftigkeit, Unwahrheit, Unwiderlegbarkeit, Unzulässigkeit, Verdacht, Vermutung, Verständlichkeit, Verunsicherung, Vision, Vorahnung, Vorbehalt, Vorbehalte, Vorgefühl, Vorherwissen, Vorspiegelung, Vorstellung, Vorwand, Wahn, Wahnbild, Wahrhaftigkeit, Wahrheit, Wirklichkeit, Wissen, Wissenschaftlichkeit, Wunschdenken, Wunschvorstellung, Zeugenaussage, Zeugenschaft, Zwangsläufigkeit, Zweifel, Zweifelhaftigkeit, falsche Behauptung, Überzeugung